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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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die Infrarotbrillen, viele verrutscht. Manche hatten die Münder offen stehen oder die Hände an der Brust verkrallt.
    Ein Arzt und eine Krankenschwester umarmten einander im Liegen. Beide hatten ihre Nachtsichtmasken abgenommen. Er war dunkelhaarig mit Pferdeschwanz, vielleicht gerade erst fertig mit dem Studium. Sie sah aus wie ein Teenager, bestimmt nicht viel älter als zwanzig, mit blond gefärbten Haaren und einem Nasenpiercing. Sie lagen am Rand des Korridors, als hätten sie dort Schutz gesucht vor den vorüberhetzenden Menschen. Inmitten der Panik hatten sie ihre Schutzbrillen abgesetzt und den Tod gemeinsam erwartet.
    Für einen Augenblick fühlte ich eine solche Nähe zu ihnen, dass mir die Luft wegblieb. Ich spürte Tränen unter meiner Maske und sagte mir, dass das lächerlich war. Ich hatte diese Leute nicht gekannt. Ihre Geister würden mich töten, wenn ich nicht weiterlief. Und trotzdem überkam mich das Gefühl, ich müsse stehen bleiben und einen Blick ohne Brille auf sie werfen. Als wäre ich ihnen das schuldig.
    Ich holte tief Luft und legte die Hand an den Rand der Infrarotmaske.
    »Lass das!« Tylers Hand fiel von hinten auf meine Schulter.
    »Rain«, rief Emma, »komm weiter!«
    Ich schüttelte seine Hand ab und schob das Nachtsichtgerät nach oben.
    Tyler presste mir seine Hand auf die Augen, riss mich nach hinten, so dass ich fast stolperte, und als ich energisch protestierte, schob er mir die Brille über die Augen und stieß mich grob den Gang hinunter. Emma packte meine Hand und zog mich mit sich.
    »Eine normale Zimmerbeleuchtung ist fünfhundert Lux hell«, rief Tyler im Laufen, »ein wolkenloser Sommertag hunderttausend Lux. Hier drinnen sind es wahrscheinlich ein paar Millionen. Du riechst das Licht nicht, du hörst es nicht, und durch die verdammte Maske siehst du es nicht mal. Aber schau nur eine Sekunde lang ungeschützt hinein, und du wirst blind.« Er brüllte mich fast an. »Also keine unnötigen Risiken mehr, okay?«
    » Du erzählst mir was von unnötigen Risiken? Wer von uns wollte zum Haus der Salazars? Wer musste unbedingt in die Hot Suite einbrechen? Wer konnte nicht anders, als in den Lastwagen zu klettern und diese vier Monster freizulassen?« Am Ende des Korridors blieb ich stehen und verstellte ihm den Weg. Ich hatte meine Wut jetzt nicht mehr unter Kontrolle. Vielleicht lag es an all den Toten, vielleicht auch einfach nur an ihm. Oder an mir. Ganz egal. »Seit wir mit dir zusammen sind, gab es keine Minute mehr ohne irgendein Risiko! Und das ist nicht Emmas oder meine Schuld!«
    »Haltet mich da raus!«, sagte Emma. »Und könnt ihr das vielleicht draußen diskutieren?«
    Mit seinen Kameraaugen sah Tyler aus wie ein Cyborg. »Komm schon!«, sagte er und ergriff im Vorbeigehen meine Hand. »Wir müssen weiter!«
    Ich tat etwas, das ich weder damals noch heute wirklich verstand: Ich gehorchte. Weder zog ich meine Hand aus seiner, noch setzte ich diesen lächerlichen Streit fort, der nichts mit ihm oder mir zu tun hatte, nur mit unserer Lage.
    Emma kletterte als Erste durch eine offene Tür, in der drei Tote übereinanderlagen. Wir gelangten in einen riesigen Saal. Hier hatte man vier Reihen aus Krankenbetten aufgestellt, zwei entlang der Wände, zwei in der Mitte. Es mussten an die zweihundert Betten sein. Ich fragte mich, wie viele Menschen hier gestorben waren. Einer pro Tag in jedem Bett? Fast vierhundert Tage im Jahr, zweihundert Betten, das ergab achtzigtausend Geister. Und vermutlich gab es mehrere dieser Säle. Drei, vier oder doch eher zehn? Und weitere Einzelsterbezimmer für Privilegierte wie im hinteren Teil der Anlage. Ich stellte mir vor, dass in jedem dieser Betten Hunderte Erscheinungen ineinanderstanden, strahlende Säulen aus Totenlicht.
    Wir stürmten einen der Gänge zwischen den Bettenreihen hinunter, über weitere Tote hinweg, medizinisches Personal und Kranke, die nur wenige Meter weit gekommen waren. An vielen Betten standen Metallständer für Infusionen. Was genau hatte man den Menschen verabreicht? Ganz sicher keine Medikamente, um sie länger am Leben zu halten. Sterben war hier zur Massenabfertigung geworden.
    Am Ende des Saals waren ein Dutzend Männer und Frauen in einem halb offenen Stahlschott stecken geblieben. Jemand hatte von unserer Seite aus versucht, die Tür zu schließen, um den Ansturm aufzuhalten. Das Schott war bis zur Mitte zugeglitten, dann waren zu viele Körper im Weg gewesen. Jetzt war die Öffnung mannshoch mit Leichen

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