Phantasmen (German Edition)
ich erkannte ihn am schottischen Dialekt, ohne mich zu ihm umzusehen. »Damals sind zweihundertdreißig Menschen ums Leben gekommen. Anfangs glaubten alle, es wäre eine Bombe gewesen, im Gepäck von irgendeinem armen Schwein aus dem Libanon. Aber dann stellte sich heraus, dass ein technischer Fehler die Ursache war.«
Zweihundertdreißig Geister, die für alle Zeit am Himmel hingen. Sie standen aufrecht in der Luft, immun gegen die eisigen Temperaturen und Stürme, mehrere Tausend Meter hoch über dem Atlantik. Männer, Frauen und Kinder, die alle innerhalb eines Augenblicks in einem Feuerball ums Leben gekommen waren.
An Bord unserer Maschine drängten sich nun alle um die winzigen Fenster, weiter hinten gab es Gerangel.
»Ich wette, die hatten Ärger mit den Turbinen«, rief jemand und erntete nervöses Gelächter.
»Dafür haben wir einen Piloten, der sich mit Hammer und Schraubenschlüssel auskennt«, erwiderte ein anderer sarkastisch. »Was soll uns schon passieren!«
»Vor allen Dingen«, sagte Peterson leise, »haben wir einen Piloten, dessen Grasverbrauch höher ist als der aller Schafherden nördlich von Glasgow.«
Der Anblick des Geisterschwarms berührte mich. Es war vor allem seine bizarre Schönheit, die sich mir einprägte. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen wurde mir bewusst, dass ich die Erscheinungen anstarrte wie ein Kunstwerk, von dem eine makabere Faszination ausging.
»Arme Teufel«, sagte Peterson.
»Haben Sie das auch gedacht, als Sie den Airbus gesprengt haben?«, fragte ich, ohne ihn anzusehen.
»Ich war nicht dabei«, erwiderte er ruhig. »Vor drei Jahren war ich Arzt beim Blauhelmeinsatz auf Bougainville.«
»Von den UN zu Lionheart?« Tyler stieß verächtlich die Luft aus. »Schöne Karriere.«
»Manchmal möchte man bezahlt werden für das, was man kann.«
Die schwebenden Geister dort draußen verbreiteten ein Gefühl von Erhabenheit. Eine Tragödie als atemberaubendes Naturschauspiel – falls dies ein Mahnmal sein sollte, dann das schönste, das ich mir vorstellen konnte.
Als der Schwarm allmählich zurückblieb, blickte Tyler von mir zu Peterson. »Der Easy-Air-Absturz ist viel zu lange her.«
»Allerdings«, sagte der Arzt. »Über fünf Jahre.«
Bislang waren nur die Geister der letzten drei Jahre erschienen. Falls diese Flugzeugkatastrophe länger zurücklag, hatte jemand eine Änderung im Regelwerk vorgenommen.
Diese Geister dort draußen, alle zweihundertdreißig, hätten gar nicht existieren dürfen.
35.
Bis zum Start in Andalusien hatte Haven noch Kontakt zu Whitehead in New York gehabt, über ein altmodisches Kommunikationsnetz, das von Militärs benutzt wurde, wenn Handys und gewöhnliche Telefone versagten.
Als wir etwa vier Stunden in der Luft waren, kurz nach unserer Begegnung mit dem Geisterschwarm, erfuhren Tyler und ich aus den Gesprächen der Söldner, dass gleich nach dem Abheben die letzten Kanäle zusammengebrochen waren.
Die Antonov glitt hoch über den Wolken durch eine Nacht, die nicht enden wollte. Um uns war nichts als Schwärze. Wir waren bei Dunkelheit gestartet und würden, falls überhaupt, auf Grund der Zeitverschiebung im Dunkeln ankommen. Wir alle ahnten, dass bei unserer Landung nichts mehr so sein würde wie zuvor.
Emma lehnte noch immer am Metallrumpf der Probandenkammer. Tyler erzählte mir, dass sie aus ihrer Betäubung erwacht war, während ich geschlafen hatte. Er hatte sie angesprochen, doch sie war wie in Trance von ihrem Platz aufgestanden, in die Lücke zwischen dem Behälter und der Wand gekrochen und dort abermals in tiefen Schlaf gefallen. Einer unserer Bewacher hatte Haven informiert, aber der Colonel hatte Anweisung gegeben, Emma nicht anzurühren, solange sie der Steuerung der Kammer nicht zu nahe kam. Vielleicht erinnerte sie ihn an seine Tochter. In der Regel teilten sich Menschen, die meiner Schwester zum ersten Mal begegneten, in zwei Lager: Die einen reagierten verwirrt und gingen auf Distanz, bei den anderen weckte sie Beschützerinstinkte.
Seit wir den Geisterschwarm passiert hatten, tolerierten es unsere Wächter, wenn Tyler und ich ein paar Worte miteinander sprachen. Sie hatten Angst, das war ihnen anzusehen. Ihre Gesten waren fahriger geworden, ihre Gespräche angespannter und ihre Wachsamkeit beschränkte sich darauf, uns vom Aufstehen abzuhalten.
Haven ließ sich nicht mehr blicken, was die Situation im Laderaum nicht besserte. Alle murrten und tuschelten, und es war offensichtlich, dass jeder
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