Phantom der Tiefe
einem anderen Willen gewollte Schicksal aufzubäumen ...
Irgendwo fanden seine steifen Finger Halt. Der folgende Ruck war so schmerzhaft, daß Kemer fast ohnmächtig wurde. Beine und Unterleib schlugen gegen Fels, der nicht annähernd so glatt war wie die Wände des Schachtes. Etwas bohrte sich in Kemers Bauch. Seine Kleidung riß an mehreren Stellen. Aus den Schürfwunden quoll Blut, dessen Wärme er nicht fühlte, obwohl es über seine kalte Haut rann.
Eine Weile hing er nur da und machte sich bewußt, daß er endgültig dem Tod geweiht war, wenn seine Hände jetzt losließen, weil sie das Gewicht nicht länger zu tragen vermochten. Und mit jeder verstreichenden Sekunde wurde es unmöglicher, dem Sog aus der Tiefe zu widerstehen .
Auf Kemers Netzhäuten irrlichterte noch der Schimmer des Stollens. Die Düsternis blendete ihn regelrecht. Aber das Fremde war jäh aus ihm verschwunden, hatte sich zurückgezogen!
Kemer kämpfte nun beherzt ums Überleben. Von weither glaubte er etwas zu hören, das ein erneutes Beben ankündigte. Dumpf und bedrohlich stieg es aus der Tiefe. Wenn jetzt der Berg zu schwanken begann .
Kemer spannte seine Muskeln an, spannte seinen ganzen Körper zu einer einzigen, letzten Aktion. Wenn sie fehlschlug, würde ihn nichts mehr retten, davon war er überzeugt.
Ich MUSS es schaffen! dachte er in der einen Sekunde.
In der anderen -
*
O Gott, ich danke dir!
Bäuchlings lag er da. Die Lippen auf den glatten Fels gedrückt, ragten Nase, Augen und Stirn über den Rand hinaus, unter sich den gähnenden Abgrund.
Und jetzt endlich sah Kemer. Sah, was schon Milas gesehen haben mußte und was ihn siebzig Jahre lang beeindruckt hatte!
Aber war es wirklich dasselbe?
Kemers Atem ging rasselnd. Er achtete nicht darauf. Die Tiefe und das, was sie beherbergte, bannte ihn, wie noch nie etwas in seinem Leben ihn fasziniert hatte.
Keinen einzigen Gedanken verschwendete er mehr an den Tod, dem er gerade noch von der Schippe gesprungen war. Dort unten ruhte etwas so Unglaubliches, daß das eigene Leben in seiner Bedeutung zum Staubkorn degradiert wurde!
Ohne dies, spann Kemer seinen Irrtum weiter, wäre das Land entvölkert, gäbe es nicht Mensch noch Tier ...
Nur für einen Wimpernschlag schloß er die Augen. Und als er sie wieder öffnete, blickte er noch wißbegieriger als zuvor auf das gewaltige Schiff in der Tiefe.
Die Arche, wisperte es in ihm. Noahs Arche - zu Stein geworden wie ... das Stück in seinem Gürtel, das Milas ihm gezeigt und überlassen hatte und das vorhin, als er gegen den Fels schmetterte, zerbrochen war!
Kemer hielt einen Rest davon mit der Faust umschlossen und überschaute, was ebenfalls in weiten Teilen der Vernichtung anheimgefallen war. Nicht erst heute; das biblische Gefährt dort unten mochte schon vor undenklicher Zeit zerstört worden sein. Tektoni-sche Erschütterungen hatten in diesem Gebiet keinen Seltenheitswert. Der Berg selbst war einst durch heftige Vulkanausbrüche entstanden .
Kemer hielt inne. Nicht nur, was jede noch so unmerklichen Bewegung anging - auch seine Gedanken stockten, weil er in diesem Moment die anderen erblickte. Jene, die ihm vorausgeeilt waren und Akhan einfach im Stich gelassen hatten!
Sie lagen gräßlich deformiert und offenbar nur noch von ihren blu-tigen Kleidern zusammengehalten auf den Planken der steinernen - WAS WAR DAS?
Was trat dort aus den Schatten ...?
Wäre es möglich gewesen, Kemer hätte sich in sich selbst, in dem Gehäuse aus Fleisch und Blut verkrochen!
Unter ihm erschien eine Gestalt, die eines nicht sein konnte - der, den Großvater Milas hier vermutet hatte. Eher wirkte sie wie Gottes Antipode.
WER -?
Die Frage gerann in Kemer, als wäre sie Blut in seinen Adern. Nicht nur die Gestalt, die sich auf die toten Pilger zubewegte - dort unten schien plötzlich alles nicht länger nur von Düsternis umgeben, sondern Düsternis zu sein!
Und was Kemer dann sah - mitansehen mußte - traf ihn wie ein Messer ins Hirn.
O Gott, was TUT er?
Mit aus den Höhlen quellenden Augen lag Kemer da.
Und unter ihm ... unter ihm WAS ...???
Andere Dunkelheit als die Düsternis, die das Schiff aus Stein dort am Boden des Abgrunds seit einer Ewigkeit umspülen mochte, senkte sich über seinen Geist.
Und verheerte ihn mit ihrem Atem .
*
Der Hohe Mann ging auf diejenigen zu, die seinem Ruf gefolgt waren und die er im Lilienkelch hatte kommen sehen. Bei einer Frau, die trotz ihres Sturzes aus großer Höhe noch immer lebte und
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