Phantom
wußte ich genau, daß sie es gar nicht erwarten konnte, Lucy loszuwerden.
»Andererseits, der Ablieferungstermin für mein neues Buch sitzt mir im Nacken, und ich werde den größten Teil der Ferien am Computer verbringen müssen«, schaltete sie schnell um. »Vielleicht wäre Lucy bei dir besser aufgehoben, von mir würde sie ja nicht viel haben. Habe ich dir schon erzählt, daß ich jetzt einen Hollywood-Agenten habe? Er ist phantastisch, kennt jeden dort, der was zu sagen hat. Er verhandelt gerade mit Disney!«
»Das ist ja großartig. Ich bin sicher, daß sich deine Geschichten wunderbar umsetzen lassen.«
Dorothy hatte schon einige Auszeichnungen für ihre Kinderbücher bekommen. Sie war eine gute Schriftstellerin, aber als Mensch eine Niete.
»Mutter ist hier«, sagte sie. »Sie möchte kurz mit dir sprechen. Es war schön, mit dir zu reden, wir tun das viel zu selten. Sorg dafür, daß Lucy nicht nur Salat ißt!«
Bevor ich etwas dazu sagen konnte, war meine Mutter am Apparat: »Das Wetter ist herrlich, Kay, und du solltest die Grapefruits sehen!«
»Tut mir leid, Mutter, ich kann wirklich nicht.«
»Habe ich das richtig mitbekommen: Du holst mir Lucy weg?«
»Du hast ja noch Dorothy.«
»Du veräppelst mich wohl! Die wird bei ihrem Fred sein. Ich kann ihn nicht ausstehen.«
Dorothy hatte sich im letzten Sommer wieder einmal scheiden lassen. Ich fragte nicht, wer Fred war.
»Er ist Iraner oder so was. Ein Muskelprotz mit Haaren in den Ohren. Weil er nicht katholisch ist, geht sie nie mehr mit Lucy in die Kirche. Ich sage dir, sie wird in der Hölle landen!«
»Mutter, sie können dich doch hören!«
»Nein, können sie nicht. Ich bin allein in der Küche – mit einem Berg Geschirr, den ich abwaschen soll. Deine Schwester behandelt mich wie einen Dienstboten, erwartet, daß ich einkaufe und koche. Es kümmert sie überhaupt nicht, daß ich eine alte Frau bin und praktisch ein Krüppel. Rede doch mal ein ernstes Wort mit Lucy!«
»Inwiefern?«
»Sie hat überhaupt keine Freunde, abgesehen von diesem merkwürdigen Mädchen. Und du solltest ihr Zimmer sehen: Es sieht aus wie die Kulisse für einen Science-fiction-Film: alles voller Computer und Drucker und anderem technischen Kram. Es ist doch nicht normal für einen Teenager, sich unentwegt mit diesem Zeug zu beschäftigen, anstatt mit jungen Leuten in ihrem Alter auszugehen. Ich mache mir ebensolche Sorgen um sie wie früher um dich.«
»Aus mir ist doch was geworden.«
»Beruflich, ja – aber privat? Du hast viel zuviel Zeit über deinen Büchern verbracht, Katie. Das hält keine Ehe aus – wie du ja gesehen hast.«
Ich seufzte leise. »Mutter, ich möchte, daß Lucy schon morgen kommt. Ich lasse das Ticket für sie hinterlegen. Sie hat sicher keine warmen Sachen, aber die können wir hier besorgen.«
»Das wird nicht nötig sein. Sie kann inzwischen deine Sachen tragen. Du wirst staunen, wie sie sich verändert hat. Und wie sie sich anzieht, ohne mich je um Rat zu fragen…«
»Mom, ich muß das Flugticket bestellen«, unterbrach ich sie.
»Ich wünschte, du würdest herkommen, dann könnten wir hier alle zusammen feiern.« Ihre Stimme zitterte.
»Ich wünschte, ich könnte es«, sagte ich.
Am späten Sonntagvormittag fuhr ich durch eine Glitzerwelt zum Flugplatz. Die Sonne schien, und die Schneekristalle blitzten und blinkten. Der Wetterbericht kündigte eine neue Schneefront an, was mich jedoch nicht schreckte – im Gegenteil. Ich freute mich darauf, gemü tlich mit Lucy am Kamin zu sitzen. Siebzehn! Ich konnte es gar nicht fassen: Es schien erst gestern gewesen zu sein, daß ihre großen Augen jede meiner Bewegungen verfolgten und sie mir auf wackeligen Beinchen durch das Haus ihrer Mutter nachlief und Trotz-oder Schluchzanfälle bekam, sobald sie nicht meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit erhielt. Lucys Liebe zu mir rührte mich ebenso, wie sie mich erschreckte. Ich hatte ein so tiefes Gefühl noch nie erlebt.
In der Ankunftshalle hielt ich Ausschau nach einem Pummelchen mit langen dunkelroten Haaren und einer Zahnspange, als eine hinreißend aussehende junge Frau auf mich zukam.
»Lucy!« rief ich, als sie mir um den Hals fiel. »Mein Gott, ich hätte dich nicht erkannt!«
Ihr Haar war zu einer Windstoßfrisur gekürzt, die ihre leuchtendgrünen Augen und die hohen Backenknochen, die bis her nicht aufgefallen waren, gut zur Geltung brachte. Kein Metall blitzte in ihrem Mund, und die klobige Brillenfassung war einer
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