Phantom
leichten aus schildplattfarbenem Kunststoff gewichen, die ihr einen intellektuellen Touch verlieh. Aber was mich am meisten überraschte, war die Veränderung ihrer Figur: Seit ich sie zuletzt gesehen hatte, war aus einem kleinen Trampel eine grazile Schönheit geworden. Die langen Beine steckten in ausgewaschenen Jeans, die mehrere Zentimeter zu kurz waren, und die nackten Füße in Turnschuhen. Unter dem weiten weißen Hemd trug sie ganz offensichtlich keinen Büstenhalter, und sie war nicht geschminkt.
»Wo ist dein Mantel?« fragte ich, als wir zu den Gepäckbändern gingen.
»Als ich in Miami abflog, hatten wir achtundzwanzig Grad.«
»Du wirst auf dem Weg zum Auto erfrieren.«
»Das ist physisch unmöglich, es sei denn, du hast in Chicago geparkt.«
»Hast du wenigstens einen Pullover im Koffer?«
»Du redest genauso mit mir wie Großmutter mit dir.«
»Ich habe jede Menge Wintersachen. Du kannst anziehen, was du willst.«
Sie hängte sich bei mir ein und schnupperte an meinen Haaren. »Du rauchst nach wie vor nicht mehr.«
»Nein, ich rauche nach wie vor nicht mehr – und ich hasse es, darauf angesprochen zu werden, denn das erinnert mich ans Rauchen.«
»Deine Haut sieht frischer aus, und du stinkst nicht nach Rauch, und du bist nicht fett geworden. Warum kommt Großmutter dich eigentlich nie besuchen?« Ihre Gedankensprünge waren ebenso verblüffend wie die meiner Mutter.
»Sie weigert sich zu fliegen.«
»Dabei ist es sicherer als Autofahren. Ihre Hüfte wird immer schlimmer, Tante Kay.«
»Ich weiß. Hol du dein Gepäck, ich fahre den Wagen vor den Eingang. Aber laß mich erst schauen, welches Band für deine Maschine zuständig ist.«
»Es sind ja nur drei. Ich glaube, das kann ich allein rausfinden«, meinte sie ironisch.
Ich trat in die Sonne hinaus und atmete tief die frische Winterluft ein. Die Veränderung meiner Nichte hatte mich trotz der mütterlichen Vorwarnung unvorbereitet getroffen, da ich nicht im Traum mit einem solch tiefgreifenden Wandel gerechnet hatte, und ich wußte im Moment noch weniger als früher, wie ich mit ihr umgehen sollte. Lucy war nie leicht zu handhaben gewesen – unberechenbar und eigensinnig, mit einem scharfen Verstand, den hin und wieder kindliche Ge fühle überlagerten –, aber jetzt würde ich es noch schwerer mit ihr haben, denn sie war kein Kind mehr. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie auch heute noch eine Auseinandersetzung damit beendete, daß sie mir ins Gesicht schleuderte, sie hasse mich oder sei froh, mich nicht zur Mutter zu haben, bevor sie türenknallend verschwand. Ich sah sie vor mir, wie sie mich kühl musterte und dann wortlos stehenließ.
Lucy war fasziniert von der Winterlandschaft. Es schmolz zwar alles wie eine Skulptur aus Eis, aber schon schob sich drohend eine neue Kaltfront in Form einer dunklen Wolke von Westen heran. Als wir in die Gegend kamen, in die ich nach ihrem letzten Besuch umgezogen war, betrachtete sie kritisch die vornehmen, dezent weihnachtlich geschmückten Villen. Ein wie ein Eskimo vermummter Mann führte seinen übergewichtigen Hund spazieren, und als uns ein schwarzer Jaguar überholte, hüllte uns eine Wolke aus Salzwasser ein.
»Es ist Sonntag, gibt es hier keine Kinder?« fragte Lucy in einem Ton, als sei ich schuld daran.
»Doch, ein paar schon.« Ich bog in meine Straße ein.
»Aber sie werden offenbar unter Verschluß gehalten.«
»Es ist eine ruhige Gegend.«
»Bist du deswegen hergezogen?«
»Teils.«
»Ich komme mir vor wie auf einem Friedhof. Wie war Halloween denn hier?«
»Ruhig.« Es hatte nur einmal geklingelt. Ich saß in meinem Arbeitszimmer und sah auf dem Monitor vier Kinder auf meiner Veranda stehen. Ich stand auf und wollte aufmachen ge h en, als ich hörte, wie das kleine, als Cheerleader kostümier t e Mädchen sagte: »Gehen wir lieber, mir ist unheimlich!«
»Warum denn?« fragte ihr als Spiderman verkleideter Begleiter.
»Die schneidet Leute auseinander und packt die Stücke in Gläser! Das hat mein Dad erzählt.« In wilder Hast stoben die vier davon.
Während ich in die Garage fuhr, sagte ich zu Lucy: »Wir bringen zuerst das Gepäck in dein Zimmer, und dann mache ich Feuer im Kamin und eine Kanne heiße Schokolade. Über das Mittagessen können wir anschließend nachdenken.«
»Ich trinke keine Schokolade. Hast du eine Espressomaschine?«
»Habe ich.«
»Das ist prima. Und ganz toll wäre es, wenn du koffeinfreien Kaffee hättest. Kennst du deine
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