Phantom
Nachbarn?«
»Vom Sehen. Komm! Die Tasche da nehme ich. Guter Gott, ist die schwer!«
»Großmutter hat darauf bestanden, daß ich dir Grapefruits mitbringe. Sie schmecken wirklich gut, aber sie haben schrecklich viele Kerne.«
Als wir in die Halle kamen, schaute sie sich um.
»Wow – Oberlichter! Nobel, nobel. Wie nennt man diesen Baustil – abgesehen von ›reich‹?«
Vielleicht würde sie die Kommentare einstellen, wenn ich nicht darauf einging.
»Das Gästezimmer liegt dort hinten«, sagte ich. »Du kannst auch oben wohnen, aber ich dachte, es ist schöner, du bist hier unten in meiner Nähe.«
»Mir ist alles recht. Hauptsache, dein Computer ist in der Nähe.«
»Der ist im Arbeitszimmer – direkt neben deinem.«
»Ich habe mein UNIX-Handbuch und einschlägige Literatur mitgebracht.« Wir waren inzwischen im Wohnzimmer, und sie schaute durch die Fenstertüren hinaus. »Der Garten ist nicht so hübsch wie dein früherer. Du hast ja gar keine Rosen!« Sie sagte das in einem Ton, als hätte ich damit alle Menschen, die ich je gekannt habe, tief enttäuscht.
»Ich habe noch jahrelang Zeit, an der Gestaltung des Gartens zu arbeiten«, antwortete ich. »Und natürlich werde ich auch Rosen pflanzen.«
Lucy ließ den Blick langsam durch den Raum wandern, bis er schließlich auf mir ruhen blieb. »Du hast Kameras an den Türen, Bewegungsmelder, einen Zaun – fehlen nur noch Wachtürme. Das Haus ist ja die reinste Festung! Du bist nie ängstlich gewesen. Marks Tod hat dich das Fürchten gelehrt, stimmt’s?«
Der Angriff traf mich mit aller Gewalt. Tränen schossen mir in die Augen. Ich trug die Reisetasche, die ich hereingebracht hatte, in die Küche – sie enthielt tatsächlich in der Hauptsache Grapefruits – und brachte sie dann ins Gästezimmer. Ich holte gerade nach, was ich vergessen hatte – mich zu vergewissern, daß genügend Kleiderbügel im Schrank waren –, als Lucy hereinkam. Sie setzte sich aufs Bett.
»Du hast ihn nie so gesehen, wie alle anderen ihn sahen.«
»Lucy, laß uns bitte das Thema wechseln!« Ich stöpselte das Telefon ein. Auch das hatte ich vergessen. Wo war ich eigentlich mit meinen Gedanken gewesen?
»Ich glaube, du bist ohne ihn besser dran.«
»Lucy, es ist Zeit, daß du Taktgefühl entwickelst Du kannst nicht einfach sagen, was du denkst.«
»Das aus deinem Mund? Du hast mir doch so oft gesagt wie sehr du Unaufrichtigkeit und Spielchen haßt!«
»Aber man sollte dabei die Gefühle anderer Menschen nicht verletzen.«
»Ach, tatsächlich?«
Ihr sarkastischer Tonfall ließ mich aufhorchen. »Lucy, habe ich deine Gefühle in irgendeiner Weise verletzt?«
»Was glaubst du, wie mir zumute war?«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
»Weil du dich nicht wirklich für mich interessierst Deshalb verstehst du es nicht.«
»Ich interessiere mich wirklich für dich, Lucy.«
»Davon merke ich aber nichts.«
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.
»Du hast mich seit seinem Tod nicht mehr besucht.« Ihre Stimme schnitt mir ins Herz. »Ich schrieb dir, aber du antwortetest nicht Und dann riefst du mich gestern an und batest mich zu kommen, weil du meine Hilfe brauchst.«
»So hatte ich das nicht gemeint.«
»Mom ist genauso.«
Ich schloß die Augen und lehnte die Stirn gegen die kühle Fensterscheibe.
»Du erwartest zuviel von mir, Lucy – ich bin nicht perfekt.«
»Ich erwarte nicht daß du perfekt bist. Ich dachte nur, du wärst anders.«
»Ich weiß nicht wie ich mich gegen eine solche Bemerkung verteidigen soll.«
»Du kannst dich nicht verteidigen.«
Ich öffnete die Augen und sah ein graues Eichhörnchen auf dem Zaun entlanghüpfen. Ein paar kleine Vögel suchten im Schnee nach Futter.
»Tante Kay?«
Ich drehte mich um. Noch nie hatte ich einen so traurigen Ausdruck in ihren Augen gesehen.
»Warum sind die Männer immer wichtiger als ich?«
»Das sind sie nicht Lucy«, flüsterte ich. »Ganz bestimmt nicht.«
Meine Nichte wollte Thunfischsalat und café au lait zum Mittagessen, und während ich anschließend am Kamin saß und einen Artikel für eine Fachzeitschrift überarbeitete, kramte sie sich durch meine Wintersachen. Ich versuchte, nicht daran zu denken, daß ein anderer Mensch meine Kleider anfaßte, etwas anders zusammenlegte als ich oder auf einen anderen Bügel hängte. Wurde ich allmählich zu einer dieser verkrampften, unduldsamen Eigenbrötlerinnen, die ich so verabscheut hatte, als ich in Lucys Alter war?
»Was meinst du dazu?«
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