Phantom
Größenwahn«, sagte Lucy zu mir.
Marino wandte sich dem Feuer zu, doch ich sah noch, daß ein Lächeln über sein Gesicht huschte.
»Mr. Vander hat nur ein Bildschirmgerät mit Drucker«, erinnerte sich Lucy. »Er ist über Modemstrecke mit dem Rechner der Staatspolizei verbunden. War das schon immer so?«
»Nein«, antwortete ich. »Vor dem Umzug verfügte er über eine umfangreichere Ausrüstung.«
»Beschreib sie mir!«
»Na ja – da waren verschiedene Geräte, und der eigentliche Computer war dem sehr ähnlich, den Margaret in ihrem Büro stehen hat, dem Mini.«
»Ich wette, daß AFIS wie ein Großrechner arbeitet, aber in Wirklichkeit kein Großrechner ist Bestimmt besteht es aus einer Reihe von parallelen Kleinrechnern, die durch UNIX oder ein ähnliches Mehrplatz-Betriebssystem verbunden sind. Wenn du mir Zugang zu dem System verschaffst, könnte ich es von deinem Rechner hier zu Hause aus machen, Tante Kay.«
»Das fehlte noch!« protestierte ich. »Dann könnte man die Spuren ja bis zu mir zurückverfolgen!«
»Aber gar nicht! Ich würde mich im Rechner anmelden, der in der Stadt steht, und mir Netzwerkfunktionen so zu eigen machen, daß der Weg nicht zu rekonstruieren ist.«
Marino ging hinaus, offenbar auf die Toilette.
»Er benimmt sich, als wohnte er hier«, stellte Lucy pikiert fest.
»Sei friedlich, Nichte«, bat ich sie.
Bald darauf brach Marino auf. Ich brachte ihn zur Tür. Der Schnee schien zu leuchten, und die Luft brannte in meinen Lungen wie der erste Zug aus einer Mentholzigarette.
»Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie Weihnachten mit Lucy und mir essen würden«, sagte ich.
Er schaute zu seinem Wagen hinüber, der am Straßenrand stand. »Das ist wirklich nett von Ihnen, Doc, aber es geht nicht.«
»Schade, daß Sie Lucy so ablehnen.«
»Ich bin es leid, mich behandeln zu lassen wie ein Schwachkopf.«
»Manchmal benehmen Sie sich aber wie ein Schwachkopf – und Sie haben sich nicht die geringste Mühe gegeben, ihre Achtung zu gewinnen.«
»Sie ist eine verzogene Göre.«
»Eine Göre war sie mit zehn«, korrigierte ich ihn, »und verzogen war sie nie. Eigentlich ist eher das Gegenteil der Fall. Ich möchte, daß Sie beide sich vertragen. Das wünsche ich mir zu Weihnachten.«
»Wer sagt denn, daß ich Ihnen was zu Weihnachten schenken will?«
»Natürlich wollen Sie das. Sie werden mir schenken, was ich mir gerade gewünscht habe – und ich weiß auch schon, wie ich das erreichen kann.«
»Nämlich?« fragte er mißtrauisch.
»Lucy will schießen lernen. Und Sie haben ihr gesagt, daß Sie die Zwölf auf meiner Uhr treffen könnten. Wie wär’s, wenn Sie ihr ein, zwei Unterrichtsstunden gäben?« »Vergessen Sie’s!«
6
Die nächsten drei Tage waren typisch für die Vorweihnachtszeit: Niemand war zu erreichen oder rief zurück, auf den Parkplätzen gab es große Lücken, die Mittagspausen wurden ausgedehnt und Erledigungen fürs Büro mit Zwischenstops bei Geschäften, der Bank oder der Post verbunden. Der Staat Virginia machte schon vor Beginn der Ferien die Schotten dicht. Neils Vander tanzte allerdings aus der Reihe, und so rief er mich am Weihnachtstag morgens aus dem Dienst an.
»Ich mache mich gerade an einen Test, der Sie interessieren dürfte«, eröffnete er mir. »Im Fall Deighton.«
»Bin schon unterwegs!« Auf dem Weg vom Büro zum Lift stieß ich beinahe mit Ben Stevens zusammen, der aus der Herrentoilette kam. »Ich muß zu Vander rüber«, erklärte ich ihm. »Es wird nicht lange dauern, aber ich habe für alle Fälle meinen Piepser dabei.«
»Ich wollte gerade zu Ihnen«, sagte er.
Widerwillig blieb ich stehen. Ich fragte mich, ob er meine Nervosität bemerkte: Lucy saß zu Hause und kontrollierte, ob sich noch einmal jemand Zugang zu meinem Verzeichnis zu verschaffen versuchte.
»Ich habe heute früh mit Susan gesprochen«, berichtete Ben.
»Ach ja? Wie geht es ihr?«
»Sie kommt nicht mehr, Dr. Scarpetta.«
Ich war nicht überrascht, aber es kränkte mich, daß sie mir das nicht selbst mitteilte. Ich hatte gut ein halbes Dutzend Mal bei ihr angerufen. Entweder war niemand an den Apparat gegangen, oder ihr Mann hatte mich mit einer Ausrede abgespeist.
»Ist das alles?« fragte ich. »Sie kommt einfach nicht wieder?
Hat sie Ihnen keinen Grund genannt?«
»Ich glaube, die Schwangerschaft schlaucht sie mehr, als sie erwartet hat. Die Arbeit hier ist im Moment wohl zu anstrengend für sie.«
»Sie muß aber schriftlich kündigen«,
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