Phantom
schimmerte wie Gold. Auf ihrer Stupsnase saß wegen des linken schielenden Auges eine Brille. Ich schätzte sie auf höchstens acht Jahre.
»Geh ihn holen!« sagte Mrs. Dawson zu ihr. »Und bleib mit Charlie oben, bis ich euch hole!«
Das Kind starrte Marino und mich unverwandt an und rührte sich nicht.
»Hailey, bitte!«
Ich zuckte zusammen, als die Kleine unvermittelt davonstob. Wir setzten uns mit Susans Mutter in die Küche. Ihr Rücken berührte die Lehne ihres Stuhls nicht. Sie weinte nicht, bis kurz darauf ihr Mann hereinkam.
»O Mack!« flüsterte sie. »O Mack!« Und dann begann sie zu schluchzen. Er trat zu ihr, legte den Arm um sie und drückt e sie an sich. Als Marino ihm erklärte, was passiert war, wic h auch aus seinem Gesicht alle Farbe.
»Ja, ich weiß, wo die Strawberry Street ist«, sagte er dann mit brüchiger Stimme. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, was sie dort gewollt haben kann.«
»Wissen Sie, wo ihr Mann sich aufhält – Jason Story?« fragte Marino.
»Er ist hier.«
»Hier?«
»Er schläft oben. Er fühlt sich nicht wohl.«
»Wem gehören die Kinder?«
»Tom und Marie. Tom ist unser Sohn. Sie sind über Weihnachten hergekommen und machen einen Besuch bei Freunden in Tidewater. Sie müßten bald zurück sein.« Er griff nach der Hand seiner Frau. »Millie, diese Leute haben bestimmt eine Menge Fragen. Ich denke, du solltest Jason herunterholen.«
»Ich würde lieber erst mal allein mit ihm reden«, sagte Marino. »Können Sie mich zu ihm bringen?«
Mrs. Dawson hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte leise. Sie nickte.
»Wenn du oben bist, schau nach Hailey und Charlie!« bat ihr Mann. »Und versuche, deine Schwester zu erreichen, vielleicht kann sie herkommen.« Seine blaßblauen Augen folgten ihr und Marino aus der Küche. Susans Vater war ein hochgewachsener feingliedriger Mann, seine vollen dunklen Haare waren von ein paar grauen Fäden durchzogen. Er wirkte asketisch und verschlossen.
»Ihr Wagen ist alt, sie besitzt nichts von Wert – und ich bin sicher, daß sie nichts mit Drogen oder solchen Dingen zu tun hatte.« Er sah mich fragend an.
»Wir wissen nicht, warum es geschehen ist, Reverend.«
»Sie war schwanger«, sagte er heiser. »Wie kann man eine Schwangere töten?«
»Es ist nicht gesagt, daß der Täter das wußte«, gab ich z u bedenken. »Ansehen konnte man es ihr noch nicht.«
Er räusperte sich. »Sie besaß keine Waffe.«
Im ersten Augenblick wußte ich nicht, was er meinte, doch dann versicherte ich ihm: »Sie hat sich auf keinen Fall selbst erschossen.«
»Woraus schließen Sie das?«
»Ich habe sie untersucht. Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt Ich bin Kay Scarpetta, Chief Medical Examiner.«
Er sah mich verständnislos an.
»Ihre Tochter hat für mich gearbeitet.«
»Ach ja, natürlich.«
»Ich kann Ihren Schmerz nicht lindern«, sagte ich leise, »aber ich versichere Ihnen, daß ich alles tun werde, um herauszufinden, wer es getan hat.«
»Susan hat oft von Ihnen gesprochen. Sie waren ihr Vorbild. Es war ihr großer Wunsch, eines Tages Medizin zu studieren.« Seine Stimme war tonlos.
»Ich habe sie gestern kurz zu Hause besucht«, erzählte ich. »Sie war seit einigen Tagen nicht zur Arbeit gekommen, und ich hatte den Eindruck, daß sie etwas belastete.«
Er schluckte. Seine Finger waren so ineinander verkrampft, daß die Knöchel weiß hervortraten. Er setzte sich an den Tisch. »Wir müssen beten«, sagte er. »Beten Sie mit mir, Dr. Scarpetta?« Er streckte mir die Hand hin. »Bitte!«
Als seine Finger meine umschlossen, mußte ich daran denken, daß Susan den Glauben völlig abgelehnt hatte, den ihr Vater repräsentierte. Strenge Bibelgläubigkeit lief auch meiner Einstellung zuwider, und ich fühlte mich äußerst unwohl, als ich pflichtschuldigst die Augen schloß und den Druck von Reverend Mack Dawsons Hand spürte, während er Gott für eine Gnade dankte, für die ich keinen Beweis sah, und ihn um Vergünstigungen für seine Tochter bat, die diese nicht benötigt hätte, wenn sie noch am Leben gewesen wäre. Als ich die Augen öffnete, zog ich meine Hand weg. Einen Moment lang fürchtete ich, Susans Vater würde meinen Skeptizismus spüren und mich zu bekehren versuchen, doch das Heil meiner Seele war im Augenblick nicht vorrangig für ihn.
Über uns wurde eine protestierende Männerstimme laut. Ein Stuhl scharrte über den Boden, und dann stieß der Mann einen Schrei aus, der Wut und
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