Phantom
Schmerz ausdrückte. Das Telefon begann zu klingeln und klingelte weiter. Dawson schloß die Augen und murmelte etwas, das sich wie »Geh auf dein Zimmer!« anhörte. Dann hob er den Blick und sah mich an.
»Jason ist die ganze Zeit hiergewesen«, sagte er. Ich sah seinen Puls unter der papierdünnen Haut schlagen, die sich über seine Schläfe spannte. »Natürlich kann er Ihnen das auch selbst sagen, aber ich möchte es schon im vorhinein bestätigen.«
»Sie sagten, er fühle sich nicht wohl.«
»Er wachte heute früh mit einer beginnenden Erkältung auf, und als sich nach dem Mittagessen erwies, daß er Fieber hatte, meinte Susan, er solle sich oben hinlegen. Er hätte sie niemals…« Wieder räusperte er sich. »Ich weiß, daß die Polizei danach fragen und die häuslichen Verhältnisse berücksichtigen muß, aber der Täter stammt bestimmt nicht aus unserer Familie.«
»Reverend Dawson, wann verließ Susan das Haus? Und wohin wollte sie?«
»Sie fuhr gegen halb zwei weg, nachdem Jason ins Bett gegangen war. Sie sagte, sie wolle eine Freundin besuchen.«
»Welche Freundin?«
Er schaute an mir vorbei ins Leere. »Eine ehemalige Schulkameradin von der High School: Dianne Lee.«
»Wo wohnt diese Dianne?«
»Auf der Northside, unweit der Akademie.«
»Susans Wagen wurde nahe der Strawberry Street gefunden , nicht auf der Northside.«
Er schaute mich hilflos an.
»Es wäre interessant zu erfahren, ob sie zuvor bei Dianne war und wessen Idee das Treffen war«, meinte ich.
Reverend Dawson stand auf und begann, die Küchenschubladen zu durchsuchen. In der dritten fand er das Telefonbuch. Seine Hände zitterten, als er die Seiten umblätterte und dann eine Nummer wählte.
Er räusperte sich mehrmals und bat dann, mit Dianne sprechen zu dürfen. »Ich verstehe«, sagte er nach einer Pause. »Wann war das?« Nochmals Pause. Dann: »Nein, nichts ist in Ordnung.«
Ich hörte zu, wie er erklärte, was geschehen war – und plötzlich sah ich ihn viele Jahre jünger vor mir, wie er für seine Tochter Judy betete und am Telefon von ihrem Tod berichtete. Als er aufgelegt hatte und sich wieder an den Tisch setzte, bestätigte er meine Vermutung: Susan hatte ihre Freundin nicht besucht und war auch nicht mit ihr verabredet gewesen: Dianne war verreist.
»Sie ist bei ihren Schwiegereltern in North Carolina«, sagte der Reverend. »Schon seit Tagen. Warum hat Susan gelogen? Sie brauchte nicht zu lügen. Sie wußte, daß sie mir alles erzählen konnte.«
»Offenbar wollte sie nicht sagen, wohin sie fuhr.«
Wieder flüsterte er: »Geh auf dein Zimmer!« Dann hob er den Kopf und schaute mich an. »Sie hatte eine Zwillingsschwester. Judy starb, als die beiden noch zur High School gingen.«
Ich nickte. »Bei einem Autounfall. Susan sprach neulich darüber. Es tut mir so leid.«
»Susan hat es nie verwunden. Sie gab Gott die Schuld – und mir.«
»Mir gegenüber machte sie eine Klassenkameradin namens Doreen dafür verantwortlich.«
Er zog ein Taschentuch heraus und putzte sich leise die Nase. »Wen?« fragte er.
»Ein Mädchen, das angeblich eine Hexe war.«
Er sah mit verständnislos an.
»Sie soll Judy mit einem Fluch belegt haben.« Es war sinnlos: Reverend Dawson wußte ganz offensichtlich nicht, wovon ich sprach. Wir schauten beide zur Tür, als Hailey hereinkam. Sie drückte einen Baseballhandschuh an die Brust. In ihren Augen stand Furcht.
»Das ist aber ein schöner Handschuh!« sagte ich und versuchte zu lächeln.
Hailey näherte sich mir. Der Geruch von neuem Leder stieg mir in die Nase. Der Handschuh war mit einem Band zusammengebunden, in der Mulde lag wie eine Perle in einer Auster ein Softball.
»Den Handschuh hat mir Tante Susan geschenkt«, erklärte Hailey. »Man muß ihn erst weich machen. Tante Susan hat gesagt, ich muß ihn eine Woche lang unter meine Matratze legen.«
Ihr Großvater hob sie hoch und setzte sie auf seinen Schoß. Er blickte ihr in die Augen und sagte: »Ich möchte, daß du auf dein Zimmer gehst, Liebes. Ich habe ein paar Dinge zu erledigen.«
Sie nickte ernst, ließ mich aber nicht aus den Augen.
»Was machen Grandma und Charlie?«
»Weiß ich nicht.« Sie glitt von seinen Knien und verließ mit zögernden Schritten die Küche.
»Vorhin haben Sie zweimal gesagt ›Geh auf dein Zimmer‹, aber da war Hailey nicht hier. Wen haben Sie damit gemeint?« fragte ich.
Er starrte vor sich auf die Tischplatte. »Mein Vater gestattete mir nicht zu weinen. Wenn er sah, daß
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