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Phantom

Phantom

Titel: Phantom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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ich den Tränen nahe war, schickte er mich auf mein Zimmer – und so lernte ich, mich zu beherrschen.«
    »Ich bin nicht Ihr Vater, Reverend, und ich finde es völlig natürlich zu weinen, wenn man Kummer hat.« Ich hörte Marino die Treppe herunterkommen. Gleich darauf öffnete er die Tür. Als Dawson den Kopf hob, sah ich, daß die Augen des Reverend in Tränen schwammen.
    »Ich glaube, Ihr Sohn ist da«, sagte Marino zu ihm. Als draußen Autotüren zuschlugen und Gelächter durch die winterliche Dunkelheit schallte, legte Susans Vater den Kopf auf die Unterarme und begann zu schluchzen.
    Als ich nach Hause kam, versuchte ich, meinen Stellvertreter Fielding zu erreichen: Ich fühlte mich außerstande, Susan selbst zu obduzieren, und wollte den Fall durch meine Mitwirkung nicht komplizieren. Niemand ging ans Telefon. Bei Dr. Wright, meinem Stellvertreter in Norfolk, hatte ich Gott sei Dank mehr Glück: Er erklärte sich bereit, am nächsten Morgen nach Richmond zu kommen. Den Rest des Abends verbrachten Lucy und ich sehr schweigsam am Kamin.
    Dr. Wright traf, wie versprochen, Sonntag vormittag um zehn im Leichenschauhaus ein. Wir gingen gemeinsam in den Autopsieraum, und ich setzte mich mit dem Gesicht zur Wand an einen Tisch. Von Zeit zu Zeit gab mein Kollege Kommentare ab, während ich blicklos vor mich hin starrte. Ich rührte kein Formular an und beschriftete kein einziges Teströhrchen. Irgendwann fragte ich: »Haben Sie auch Parfüm an ihren Kleidern gerochen?« »Ja, am Mantelkragen und am Halstuch.« »Ist es Ihrer Meinung nach ein Herrenduft?« »Mmm… Ich denke schon. Vielleicht von ihrem Mann.« Dr. Wright stand kurz vor seiner Pensionierung. Er hatte ein Kugelbäuchlein, eine beginnende Glatze und sprach mit starkem West-Virginia-Akzent. Er war nicht nur ein sehr sympathischer Mann, sondern auch ein ausgezeichneter forensischer Pathologe. Seine Überlegungen schienen in eine ähnliche Richtung zu deuten wie die meinen.
    »Ich werde Marino bitten, das zu überprüfen.«
    »Sieht nach einem kleinen Kaliber aus«, sagte er. »Die Geschosse sind nicht ausgetreten.« Ich schloß die Augen. »Die Wunde in der rechten Schläfe weist Schmauchspuren auf. Im Schläfenmuskel ebenfalls etwas Pulver. Kaum etwas im Knochen und der harten Hirnhaut.«
    »Der Schußkanal?« fragte ich.
    »Durch die hintere Partie des rechten Stirnlappens über die Vorderpartie zum basalen Ganglionknoten und weiter zum linken Schläfenbein. Die Kugel steckte dicht unter der Haut im Muskelgewebe. Ein Bleigeschoß mit Kupferüberzug, aber ohne Mantel.«
    »Ist es ganz geblieben?«
    »Ja. Dann haben wir die zweite Wunde im Nacken: schwarzer versengter Rand mit Mündungsabdruck, etwas ausgefranst. Viel Pulver in den Hinterhauptmuskeln. Die Kugel drang am Übergang des Halswirbels C-1 in das Hinterhauptloch ein, zerstörte das Nackenwirbelknochenmark und blieb im Pons stecken.«
    »Wie ist der Winkel?«
    »Ziemlich steil nach oben.«
    »Dann muß sie sich vorgebeugt haben. Aber so wurde sie nicht gefunden«, dachte ich laut »Sie saß zurückgelehnt hinter dem Steuer.«
    »Dann hat der Täter sie so hingesetzt, nachdem er sie erschossen hatte«, meinte Wright. »Der Schuß, der im Pons steckenblieb, war wohl der zweite. Da dürfte sie bereits bewußtlos gewesen sein.«
    Zwischendurch gelang es mir, so nüchtern über die Tatumstände zu sprechen, als gehe es um eine Fremde, dann wieder begann ich zu zittern, und Tränen brannten in meinen Augen. Zweimal mußte ich hinausgehen. Die kalte Luft half mir, meine Fassung wiederzugewinnen. Als Wright mit seinen Untersuchungen bei dem zehn Wochen alten Embryo – einem Mädchen – anlangte, hielt ich es nicht mehr aus und fuhr ins Büro hinauf. Nach dem Gesetz von Virginia ist ein ungeborenes Kind keine Person und kann demzufolge nicht ermordet werden.
    »Der Mistkerl kriegte zwei zum Preis von einem«, sagte Marino später am Telefon mit bitterem Sarkasmus.
    »So kann man es ausdrücken.« Ich kramte in meiner Handtasche nach dem Aspirinröhrchen.
    »Falls es zum Prozeß kommt, wird es überhaupt keine Rolle spielen, daß Susan schwanger war.«
    »Ich weiß. Wright ist fast fertig. Die externe Untersuchung hat keine schlüssigen Hinweise auf den Täter erbracht. Was gibt es bei Ihnen?«
    »Susan hatte tatsächlich Probleme.«
    »Mit ihrem Mann?«
    »Seiner Aussage nach mit Ihnen. Er sagt, sie hätten dauernd angerufen, als sie nicht mehr zur Arbeit ging, und vorher sei sie oft ganz verstört

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