Phantom
mir, das mich beim Eintreffen am Fundort der Leiche zeigte. Die Hauptinformationsquelle des Reporters war offenkundig Susans Ehemann Jason, der behauptete, seine Frau habe einige Tage vor ihrem gewaltsamen Tod ihren Job aufgegeben, weil ich darauf bestanden hätte, sie im Autopsiebericht eines ermordeten Jungen als Zeugin aufzuführen, obwohl sie bei der Obduktion gar nicht anwesend war; es habe deshalb auch eine heftige Auseinandersetzung zwischen uns gegeben. Danach hätte ich so oft bei ihnen zu Hause angerufen, daß sie es nicht mehr wagte, ans Telefon zu gehen, und schließlich habe ich sie am Weihnachtsabend »überfallen« und aus irgendeinem Grund mit Gefälligkeiten bestechen wollen.
Zitat: »Ich kam von Weihnachtseinkäufen zurück und traf sie (Dr. Scarpetta) im Flur: Sie war im Gehen. Sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, brach Susan in Tränen aus. Sie hatte entsetzliche Angst, wollte mir aber nicht sagen, wovor.«
So unerfreulich ich Jasons Verunglimpfung meiner Person fand, was mich viel mehr irritierte, waren Susans finanzielle Transaktionen: Dem Bericht zufolge hatte sie zwei Wochen vor ihrer Ermordung dreieinhalbtausend Dollar auf ihr Konto eingezahlt und anschließend Kreditkartenschulden von mehr als dreitausend Dollar beglichen. Dieser plötzliche »warme Regen« sei ein Rätsel, schrieb der Reporter. Ihr Ehemann habe im Herbst seinen Job als Vertreter verloren, und Susan verdiente weniger als zwanzigtausend im Jahr.
Auch mir war dieser Punkt ein Rätsel.
»Mr. Wesley kommt«, sagte Lucy und nahm mir die Zeitung weg.
Benton trug schwarze Skikleidung und hatte einen roten Anorak unter dem Arm. Ich sah ihm an, daß er die Neuigkeit bereits kannte.
»Warum haben Sie mir nicht erzählt, daß die ›Post‹ mit Ihnen gesprochen hat?« Er zog sich einen Stuhl unter dem Tisch heraus.
»Hat sie ja gar nicht!«
Er schaute mich ungläubig an. »Sie haben vor der Veröffentlichung dieses Artikels keine Chance von denen bekommen, sich zu äußern?«
»Ganz so ist es nicht: Gestern rief jemand von der ›Post‹ an. Aber ich entschied mich dafür, nicht mit ihm zu sprechen.«
»Sie waren also nicht vorgewarnt?«
»Nein.«
»Die Sache kam vorhin schon im Fernsehen, Kay. Marino hat angerufen: Die Presse in Richmond hat einen großen Tag. Der allgemeine Tenor ist, daß der Mord an Susan mit ihrer Tätigkeit beim Chief Medical Examiner zusammenhängt, daß Sie damit zu tun und deshalb überstürzt die Stadt verlassen haben.«
»Das ist doch verrückt!«
»Wieviel stimmt denn von dem Artikel?« fragte er.
»Die Tatsachen sind völlig entstellt worden, aber es stimmt, daß ich bei Susan anrief. Allerdings nicht, weil ich sie dazu bewegen wollte, ihre Kündigung zurückzunehmen, sondern um mich nach dem Formalinunfall nach ihrem Befinden zu erkundigen und um sie zu fragen, ob sie Waddell Fingerabdrücke abgenommen habe. Es ist ebenfalls richtig, daß ich sie am Weihnachtsabend besuchte; allerdings nicht, um sie zu ›überfallen‹, sondern um ihr ein Geschenk zu bringen. Sie machte einen verstörten Eindruck, und ich sagte ihr, sie könne sich jederzeit an mich wenden, wenn sie Hilfe brauche. Ich nehme an, daß Jason das mit den ›Gefälligkeiten‹ gemeint hat, mit denen ich sie ›bestechen‹ wollte.«
»Und was hat es damit auf sich, daß sie bei der Autopsie von Eddie Heath nicht als Zeugin aufgeführt werden wollte?«
»Es ist üblich, daß Assistenten, die bei einer Autopsie anwesend sind, im Protokoll als Zeugen genannt werden. In diesem Fall war Susan nur zeitweise anwesend: Nachdem sie die Formalinbehälter hinuntergestoßen hatte, schickte ich sie in mein Büro hinauf, damit sie sich dort aufs Sofa legen konnte. Die Sache habe ich Ihnen ja schon erzählt. Susan war nur bei der externen Untersuchung dabeigewesen und wollte nicht als Zeugin unterschreiben. Ich fand ihre Bitte zwar etwas merkwürdig, aber wir hatten deswegen keinerlei Auseinandersetzung.«
»In dem Artikel wird der Eindruck vermittelt, als habe sie die dreieinhalbtausend Dollar von dir bekommen«, sagte Lucy, die den Bericht inzwischen ebenfalls gelesen hatte.
»Ich habe sie nicht bestochen, aber es sieht so aus, als habe jemand anderer es getan«, antwortete ich.
»Ich nehme an, das Geld war das Honorar für irgendwelche Dienste«, wandte Wesley sich an mich. »In Ihren Computer wurde eingebrochen – und Susan veränderte sich. Sie war plötzlich überempfindlich und unzuverlässig, und schließlich lief
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