Philosophenportal
1982.
|37| Handbuch des Machtkalküls
NICCOLÒ MACHIAVELLI: Der Fürst (1532)
Moralische Urteile über Menschen oder Gruppen von Menschen sind so alt wie das menschliche Zusammenleben selbst. Ein moralisch
ganz besonders verabscheuungswürdiges Exemplar nennen wir einen »Schurken«, und selbst für bestimmte Staaten, denen man finsterste
Absichten unterstellt, hat sich der Name »Schurkenstaat« eingebürgert. Doch gibt es auch »Schurkenbücher«? Vielleicht fallen
uns dazu Schriften verbrecherischer Diktatoren wie Hitler oder Stalin ein. Die wenigsten jedoch werden dabei an philosophische
Bücher oder gar an einen philosophischen Klassiker denken. Und doch hat eines der wichtigsten Bücher der politischen Philosophie,
Niccolò Machiavellis
Der Fürst,
seit mehreren hundert Jahren genau diesen Ruf.
Hier finden wir angeblich das Rezept des »Machiavellismus«, jener verruchten Haltung, die alle Schändlichkeiten rechtfertigt,
wenn sie nur im Dienst der eigenen Macht geschehen. Als der preußische König Friedrich II., selbst ein nicht gerade zimperlicher
Machtpolitiker, sich wieder einmal in philosophischer Stimmung befand, schrieb er seinen »Anti-Machiavell« und machte bereits
durch diesen Titel auf den scheinbar humanen und aufgeklärten Charakter seiner eigenen Herrschaftsvorstellungen aufmerksam.
Der Begriff »Machiavellismus« ist bis heute ein Schimpfwort geblieben. Eine Anekdote erzählt, Machiavelli habe auf seinem
Sterbebett auf das Drängen, den Teufel und alle seine Werke zu verfluchen, geantwortet: »Dies ist nicht der Zeitpunkt, sich
Feinde zu machen.« War Machiavelli also wirklich »des Teufels Philosoph«?
Machiavelli war ein Kind der Renaissance, eines Zeitalters, in dem |38| so viele neue Perspektiven auf allen Gebieten der Kultur eröffnet wurden. Betrachtet man
Il Principe
, wie das Buch im Original heißt, im Zusammenhang der Philosophiegeschichte, so fällt einem, unabhängig von der moralischen
Wertung, vor allem das Neue und Bahnbrechende auf. Viele Bücher mit diesem Titel hatte es vorher gegeben, doch keines ließ
sich mit dem Werk Machiavellis vergleichen. Hier wurde das politische Geschäft zum ersten Mal »nackt« betrachtet: ohne metaphysische,
moralische oder theologische Beigaben.
Mit Machiavelli beginnt die politische Philosophie der Neuzeit, die den Staat als eine vom Menschen selbst geschaffene Organisationsform
begreift und versucht, das politische Geschäft auch ohne die moralische Brille zu betrachten. Machiavelli ist dabei nicht
so sehr unmoralisch als vielmehr amoralisch – er will nicht bewusst die Moral in Frage stellen, sondern er lässt sie in seiner
politischen Philosophie einfach draußen vor der Tür.
Der Fürst
hat ein ebenso einfaches wie wichtiges Thema: Wie kann Politik zu einem effektiven Handwerk gemacht werden? Wie muss ein Herrscher
handeln, wenn er erfolgreich und auf Dauer seine Macht behaupten will? Das Revolutionäre an Machiavellis Buch ist, dass es
das Thema Politik von einem neuen Blickwinkel aus, dem Blickwinkel der Effizienz, diskutiert. Es ist das erste Handbuch des
rationalen Machtkalküls in der Geschichte der politischen Philosophie. Machiavelli ist der Erfinder der politischen Klugheitslehre.
Diese Klugheitslehre stützt sich auf die Erfahrung. Machiavelli ist der erste wichtige politische Philosoph der Neuzeit, der
seine Theorie auf konkreten Erlebnissen und Beobachtungen aufbaut. Dies verbindet ihn mit bedeutenden Forschern seiner Zeit,
die parallel die empirischen Naturwissenschaften begründeten, wie zum Beispiel der Astronom Nikolaus Kopernikus, der nur vier
Jahre jünger als Machiavelli war. Nicht mehr die abstrakte Vernunft galt ihm als Autorität, sondern das, was er selbst beobachtet
hatte, oder das, was glaubhaft bezeugt war. Machiavellis Buch ist deshalb voller Beispielmaterial, das er als Beleg für seine
Thesen anführt und das er im Wesentlichen aus zwei Quellen schöpft: aus den politischen Ereignissen seiner Zeit und aus Begebenheiten,
die von Historikern überliefert waren.
|39| Was man Machiavelli auch vorwerfen mag – ein philosophischer Schreibtischtäter war er nicht. Wie kaum ein anderer Philosoph
vor oder nach ihm hat er ein Praktikum im wirklichen Leben absolviert: Machiavelli war selbst über viele Jahre Politiker und
Diplomat. Eher könnte man umgekehrt sagen: Machiavelli wurde zu einem Philosophen aus Verlegenheit – sein Buch entstand, als
ihm eine
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