Philosophenpunsch
Gedanken, dass Julia recht haben könnte. Er warf einen Blick in die von ihr angedeutete Richtung. Tatsächlich lag da etwas mit seltsam überkreuzten Beinen am Fuß einer kleinen Treppe, die zu einem Nebeneingang des Schulhauses führte.
Er ging näher heran. Handelte es sich um einen Betrunkenen? Dann musste man ihn schleunigst aufwecken, damit er in dieser kalten Winternacht nicht jämmerlich erfror. Aber schneller, als ihm lieb war, sah Korber, dass hier niemand seinen Rausch ausschlief. Veronika Planks Augen waren weit aufgerissen und starrten ins Nichts. Sie war tot. Mausetot. Und sie war nicht auf natürliche Weise aus dem Leben geschieden. An ihrem Hals waren deutliche Würgemale zu erkennen.
Korber spürte, wie seine Beine nachgaben und das Blut aus seinem Kopf wich. Er musste sich am Stiegengeländer festhalten, um nicht umzukippen. Als er noch überlegte, wie er Julia diese Nachricht möglichst schonend beibringen sollte, hörte er, wie sich ihr taumelnder Schritt von ihm entfernte und sie anschließend ihren Mageninhalt geräuschvoll entleerte. Dann lautes Schnäuzen und leises Schluchzen. Offenbar hatte sie alles sehr rasch mitbekommen.
»Es ist Veronika, die Frau, die rechts neben mir gesessen ist«, sagte Korber in die plötzlich spürbare Stille.
»Ich weiß. Aber was sollen wir denn jetzt machen?«, fragte Julia Leichtfried mit tränenerstickter Stimme.
Korber überlegte kurz. »Ich rufe Leopold an. Er wird uns weiterhelfen«, beruhigte er sie dann.
*
Leopold hätte es seinem Freund wohl nie verziehen, wenn er ihn über eine Leiche, die knappe 100 Meter von seiner Wirkungsstätte, dem Café Heller, entfernt lag, erst nach Eintreffen der Polizei verständigt hätte. Deshalb war er auch in Windeseile zur Stelle. »Wir waren gerade beim Zusperren«, berichtete er. »Aber die Chefin hat gemeint, dass es für das junge Fräulein wohl besser wäre, wenn es sich ein bisschen bei uns aufwärmt. Also gehen Sie bitte einstweilen. Du bleibst hier«, wies er Korber zurecht, als der sich anschickte, Julia zu folgen. »Frau Heller steht vorn am Eck und passt auf, dass nichts passiert. Es gibt keinen Grund, dass du dich verdrückst. Also komm und hilf mir. Wo liegt die Tote?«
Der immer noch sichtlich mitgenommene Korber zeigte wortlos zu dem leblosen Häufchen am Fuß der Treppe. Leopold nahm eine kleine Taschenlampe aus seiner Winterjacke und leuchtete der Toten fachmännisch wie ein Arzt ums Gesicht herum. Der Anblick des leblosen jungen Körpers machte auch ihm kurz zu schaffen. »Armes Ding! Was hast du bloß angerichtet, dass du so früh sterben musstest«, murmelte er. »Erwürgt, besser gesagt stranguliert«, befand er dann. »Das ist nicht mit bloßen Händen geschehen. Ich bin gespannt, ob die Polizei Faserspuren finden wird. Meiner Meinung nach ist das, der Jahreszeit entsprechend, mit einem Schal oder einem Halstuch gemacht worden.«
»Hast du gesehen, ob Veronika einen Schal trug?«, wollte Korber wissen.
»Ich glaube nicht«, antwortete Leopold. »Aber dann hatte eben der Täter einen dabei. Jedenfalls ist die Tatwaffe verschwunden. Bin gespannt, ob sie wieder auftaucht. Im Gegensatz zu Messern oder Schusswaffen wird so etwas selten entsorgt. Weil es ein nützlicher Gebrauchsgegenstand ist, von dem man sich nicht trennen will.« Er leuchtete weiter nach unten. »Siehst du das?«, fragte er seinen Freund.
Korber schüttelte teilnahmslos den Kopf. Ihm war unheimlich zumute. Warum hatte ihn Leopold bloß nicht mit Julia zurück ins Kaffeehaus flüchten lassen?
»Die Jacke ist offen, und unter dem Pullover schaut eine Bluse hervor. Interessant.« Leopolds Hände schlüpften in ein Paar Einweghandschuhe, die er vorsorglich aus seiner Lade im Kaffeehaus mitgenommen hatte. Er hob den Pullover leicht an. »Wie ich mir gedacht habe«, konstatierte er. »Keine junge Frau geht so schlampig angezogen auf die Straße. Jemand hat versucht, die Bluse aufzureißen. Da fehlen zwei Knöpfe.«
»Willst du damit sagen, dass jemand im Begriff war, Veronika zu vergewaltigen?«, fragte Korber, jetzt wieder ein wenig aus seiner Lethargie gerissen.
»Da will ich mich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht festlegen. Ausschließen möchte ich es jedenfalls nicht.«
»Beim Schnee und bei dieser Kälte? Auf offener Straße? Da hält sich doch die Lust eines jeden in Grenzen.«
»Deine vielleicht, lieber Thomas. Aber einem Triebtäter ist das, glaube ich, egal. Hier herinnen ist es halbwegs geschützt.
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