Philosophenpunsch
mich in erster Linie zählen. So eine wie Veronika hätte bei mir nie eine Chance gehabt.«
Leopold blinzelte Korber noch einmal ungläubig an. »Dein Wort in Gottes Ohr, lieber Freund. Versuch nur nicht gleich, die inneren Werte deiner neuen Untermieterin zu entdecken. Und denk bitte nach. Du kennst die Leute vom Philosophenzirkel besser als ich. Vielleicht fällt dir zu einem von ihnen etwas ein, was uns weiterbringt.«
Damit huschte Leopold leise zur Tür hinaus. Korber beeilte sich jetzt, ins Bett zu kommen. Ein paar Stunden Schlaf – wenn er denn auf seiner kleinen Wohnzimmercouch überhaupt Schlaf finden sollte – würden ihm guttun. Die Ereignisse hatten ihn ziemlich mitgenommen. Vom nächsten Tag hatte er einstweilen nur einen verschwommenen Eindruck, aber der würde sicher auch anstrengend werden.
Er gähnte laut. Die Tür zu seinem Schlafzimmer öffnete sich. Julia Leichtfried kam heraus.
»Jetzt haben wir dich doch aufgeweckt«, stellte Korber schuldbewusst fest. »Aber es geht halt nicht leiser, wenn zwei miteinander reden.«
»Ich kann sowieso nicht schlafen«, seufzte Julia. »Ich halte es nicht aus allein da drinnen. Ständig sehe ich die weit aufgerissenen Augen und den verkrampften Gesichtsausdruck der Toten vor mir. Bitte komm herein und leg dich zu mir. Bitte!«
»Aber Julia, ich …«, gab Korber verlegen von sich.
»Bitte!«, forderte Julia.
Es half alles nichts. Wenige Minuten später fand Korber sich in seinem eigenen Bett wieder. Julia hatte den Kopf an seine Brust gelehnt und hielt sich an seinem Oberarm fest. Ihr Atem wurde langsam ruhiger und tiefer, dann lauter, bis schließlich ein inbrünstiges, erlöstes Schnarchen das Schlafgemach erfüllte. Der säuerliche Geruch von Alkohol stieg Korber in die Nase und umnebelte ihn. Es war bei Gott alles andere als eine romantische Begegnung unter der Bettdecke. Dennoch spürte er den Körper und die Berührungen der Frau neben ihm, und ein stilles Glück durchströmte seinen Körper, der sich jetzt ebenfalls entspannte.
5
Die Franz-Josefs-Bahn war früher eine wichtige Bahnverbindung von Wien zu den Städten Prag, Budweis, Pilsen oder Eger. Heute erinnert nichts mehr an die glorreiche Zeit dieser Linie in der ehemaligen österreichisch-ungarischen k.u.k.- Monarchie. Das ehrgeizige Projekt ist eigentlich längst Geschichte. Die Verbindung in das heutige Tschechien existiert nicht mehr. Die Züge rollen nur mehr vom Grenzbahnhof Gmünd im nördlichen Waldviertel in die Bundeshauptstadt nach Wien. Und ›rollen‹ ist der richtige Ausdruck. Die Schnellzüge fahren alle ganz woanders, über die Gleise der heutigen Nordbahn. Ganz nebenbei verfehlt die Franz-Josefs-Bahn drei Bezirkshauptstädte des Waldviertels: Horn, Zwettl und Waidhofen an der Thaya. Dafür hat sie immer noch ihren eigenen Kopfbahnhof in Alsergrund, dem 9. Wiener Gemeindebezirk. Hier sollte Agnes Windbichler an diesem Freitag, dem 21. Dezember, um 10.48 Uhr ankommen.
Ehrfürchtig stand Leopold vor dem großen Gebäude, einer beeindruckenden Kombination aus Glas und Beton, zu dem Rolltreppen und eine breite Stiege hinaufführten. Dabei übersah er in seinem Staunen und Wundern, dass der ganze Prunk mit dem Bahnhof eigentlich nichts zu tun hatte. Man hatte ihm nur ein modernes Bürohaus aufgesetzt, das für den Unkundigen zum Blickfang wurde und ihn in Versuchung führte, in die Etagen der hohen Geschäftswelt aufzusteigen, während sich der tatsächliche Zutritt zu den Zügen, wie es so schön hieß, unscheinbar neben der Filiale einer Fast-Food-Kette versteckte. Gerade noch rechtzeitig nahm Leopold diesen von obdachlosen Sandlern belagerten Eingang wahr. Drinnen war er dann rasch in die intime, rustikale Atmosphäre der Franz-Josefs-Bahn eingebettet. Er befand sich in einer Halle mit zwei geöffneten Schaltern und ein paar Bänken, auf denen einige wenige in Mäntel gehüllte und auf ihren Zug wartende Menschen saßen. Ab und zu war ein Husten zu vernehmen. Und sonst? Ein Zeitungsverkäufer, ein Blumenladen, irgendwo Toiletten. Draußen vier Gleise. Das war alles.
Leopold investierte noch schnell ein paar Euro in einen schönen Strauß Blumen. Er hatte ein bisschen Angst vor den nächsten Tagen, und er wollte seine Tante gnädig stimmen. Dann stellte er sich auf den Bahnsteig, auf dem der Zug aus Gmünd einfahren sollte, und schaute ein wenig betreten in die Ferne. Ihm war sichtlich nicht wohl in seiner Haut.
Der Zug fuhr pünktlich ein. Jetzt schaute Leopold auf die
Weitere Kostenlose Bücher