Philosophenpunsch
Endhaltestelle von der Straßenbahn, vom 31er. Die kommt putzen, bringt mir was zu essen, und wenn ich sie brauche, kann ich sie jederzeit anrufen.«
»Das ist praktisch«, bemerkte Agnes Windbichler.
»Und ob. Falls ich ihre Nummer nicht weiß, brauche ich nur auf einen bestimmten Knopf auf meinem Apparat zu drücken, diesen hier. Und wenn ich vergesse, welcher es ist, dann gibt es noch immer diesen aufgeklebten Pfeil da, siehst du? Mir kann also nichts passieren. Ich kann sie immer erreichen. Denn sie hat natürlich ein Handy.«
»Ach was, Handys sind nur neumodisches Zeug«, meinte Agnes abfällig. Dann schien ihr plötzlich etwas einzufallen. »Aber ich habe da noch eine Frage. Sag, was ist denn aus eurem Weinkeller geworden? Ist der auch weg?«, wollte sie wissen.
»Welcher Weinkeller?«, fragte Gerlinde Pelinka irritiert.
»Na, euer alter Weinkeller oben in der Krottenhofgasse. Im Sommer war es so schön kühl, wenn wir drinnen um den Tisch herumgesessen sind. Und der Wein hat dort auch viel besser geschmeckt als anderswo.«
»Ach, unseren Keller meinst du«, kapierte Gerlinde langsam. »Ja, freilich gibt’s den noch. Der steht, wo er immer gestanden ist. Nur war seit ewigen Zeiten schon kein Mensch mehr drinnen.«
»Warum denn?«
»Er ist ja praktisch leer. Ein paar leere Weinfässer sind noch dort, der Tisch und … die Bänke … also, offen gestanden, ich weiß nicht, was sonst.«
Plötzlich wurde Agnes Windbichler unternehmungslustig. »Den würde ich mir gern wieder einmal anschauen«, sagte sie spontan. »Was hältst du von dieser Idee, Gerlinde?«
»Meinst du? Ja, mein Gott, warum nicht? Es ist halt schon ein kleines Stück zu gehen da hinauf.«
»Ach was, gehen. Da führt uns doch mein Neffe Leopold mit dem Auto. Für den Sonntag wäre das eine prima Idee. Hast du den Schlüssel?«
»Den Schlüssel? Ja, natürlich.« Gerlinde Pelinka erhob sich langsam von ihrem Sessel, und man sah ihr an, dass sie jetzt sehr angestrengt nachdachte. »Er muss hier sein, in dieser Lade«, schien ihr die Erinnerung einzuschießen. Sie öffnete die Lade, aber ihre Suche blieb ergebnislos. »Er ist nicht da«, stellte sie kopfschüttelnd fest. »Dabei habe ich mir hundertprozentig eingebildet, dass er sich hier drinnen befindet. Wo könnte er denn sonst liegen? Ich weiß nicht, in letzter Zeit lässt mein Hirnkastl wirklich nach.«
»Du musst halt suchen«, meinte Agnes achselzuckend. »Irgendwo wird er schon auftauchen. Aber ansehen würd’ ich mir den Keller schon gern, das ist jetzt eine fixe Idee von mir geworden.«
»Ja, ja«, wurde Gerlinde nervös. »Wenn ich bloß eine Ahnung hätte, wo ich nachschauen soll. Es ist schon so lange her, dass ich den Schlüssel zum letzten Mal in der Hand gehabt habe.«
»Warum fragst du nicht deine Frau Jäger?«, schlug Agnes vor. »Die sollte es doch wissen, wenn sie hier ständig putzt und so auf Zack ist.«
»Eine gute Idee«, pflichtete Gerlinde Pelinka ihr bei. »Ich werde es ihr gleich heute Abend sagen. Oder kommt sie erst morgen Vormittag? Mein Gott, diese Vergesslichkeit.«
»Egal, Hauptsache, du sagst es ihr«, beruhigte Agnes Windbichler sie. »Aber vergiss das bitte nicht. Ich kann es schon kaum mehr erwarten, wieder in unserem gemütlichen Weinkeller zu sitzen.« In ihrem Kopf tauchten Bilder aus der Vergangenheit auf: die heiteren Nachmittage und Abende, die sie gemeinsam mit Gerlinde, ihren Eltern und Freunden in dem Keller verbracht hatte; das Brot und der Speck, die zum Wein gereicht worden und stets im Überfluss vorhanden gewesen waren; die Stunden, in denen man die Welt draußen vergessen hatte; die Stimmen und das Lachen, die da unten eine ganz eigene Klangfärbung bekamen.
In ihrem Alter gewannen solche Bilder öfter, als ihr lieb war, an Bedeutung und drängten die Gegenwart zurück. Aber musste man sich solche Zufluchtsmöglichkeiten nicht schaffen, wenn der Gedanke an die eigene Zukunft immer weniger Erfreuliches mit sich brachte? Wie lange würde ihr Leben noch dauern? Bei ihrem Gatten Ignaz war der Tod sehr rasch gekommen. Sie selbst war noch gut beisammen, keine Frage, zweifellos besser als ihre Freundin aus früheren Tagen, die doch schon ein wenig hilflos und nicht mehr auf der Höhe ihrer Kräfte wirkte. Sie hatte auch nicht vor, allzu schnell den Löffel abzugeben. Man konnte jedoch nie wissen, was das Schicksal mit einem vorhatte.
Deshalb wollte sie unbedingt noch einmal an den Ort ihrer ehemaligen Unbeschwertheit zurückkehren.
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