Philosophische Anthropologie
nature) enthält keine spektakuläre These. Es ist geradezu umgekehrt. Dieses »Buch lichtvoller Empirie« (Trendelenburg 1870, 79) kommt ohne Erklärung aus, denn die Mechanismen der Entstehung von Variation in der Natur sollen für sich sprechen. Gerade weil ein Beobachtungswissenschaftler hier so leise auftritt und ein dennoch umfassendes Bild des Naturgeschehens liefert, ist die Wirkung dieses unspektakulären Buches kaum zu überschätzen. Mit Fug und Recht kann der Evolutionsbiologe und Wissenschaftshistoriker Ernst Mayr rückblickend sagen, [49] dass »jeder moderne Denker – jeder moderne Mensch, der eine Weltsicht hat – außer er hängt einem Schöpfungsglauben an, […] letztendlich Darwinist [ist]. Die Ablehnung der Einzelschöpfung, die Einbeziehung des Menschen in die belebte Welt (die Ausschließung der Sonderstellung des Menschen gegenüber den Tieren) und etliche andere Glaubensvorstellungen eines jeden aufgeklärten Menschen beruhen letztlich alle auf den Folgerungen der Theorien, die in der ›Entstehung‹ enthalten sind.« (Mayr 1995, 139)
Darwins Theoriekonzept gruppiert sich um die Begriffskonzepte »species« – für Darwin ein Funktionsbegriff, um eine Quantität beobachtbarer Differenzen der Lebensformen wenigstens benennen zu können – und »natural selection«, mit dem er den Befund der Abweichung, Entstehung von Variation und somit Entwicklung zu fassen sucht. Darwin hat keine Gelegenheit ausgelassen, den Begriff der natürlichen Selektion vor Missverständnissen zu schützen. Er betont, dass dieser Terminus keinesfalls »in the literal sense« zu verstehen ist. Denn dies würde bedeuten, den Lebensformen die Entscheidung über ihre jeweilige Veränderung zuzusprechen oder aber die natürliche Selektion zu einer schöpferischen Kraft (Gottheit) zu machen. Solche Überdehnungen seiner Theorie möchte Darwin verhindern, indem er die natürliche Selektion explizit als die Fähigkeit eines Organismus bezeichnet, sich trotz Veränderungen seiner Struktur im Leben zu erhalten. Jeder Organismus reagiert auf Veränderung, indem er versucht, die im Sinne seiner Selbsterhaltung nützlichen Elemente der Veränderung zu bewahren, andere aber zu verwerfen.
Darwin selbst hat darauf hingewiesen, dass er der Lehre des Ökonomen Thomas Malthus (1766–1834) die entscheidende Anregung verdankt, die Geschichte des Lebens und die existenzielle Situation jedes Organismus durchgängig unter einem Aspekt der Riskiertheit zu betrachten. Die Aufwertung dieser Perspektive zu einem universalbiologischen Paradigma hat er allerdings zu Recht für sich reklamiert, und er [50] hat zugleich bekannt, vor dieser Konsequenz lange Zeit zurückgeschreckt zu sein. Vor dem Hintergrund eines allgemeinen Ringens um Existenz bezeichnet die natürliche Selektion eine schöpferische Kraft zweiter Ordnung, die zwar keine Veränderungen hervorbringt, aber dafür über Erfolg oder Misserfolg einer Veränderung entscheidet. (Darwin 1958, 90) Diese Überlegungen Darwins haben ein Janusgesicht. Denn einerseits spricht er seinem mechanischen Prinzip des Naturgeschehens zu, lediglich eine schöpferische Kraft zweiter Ordnung zu sein, andererseits aber lässt er eine Leerstelle, wo es um das Prinzip von Bewegung, um das Leben geht. In der Konsequenz heißt das: Darwin vertritt die Konzeption eines immanent-kausalen Denkens, die beschreibbar macht, wie Organismen sich selbst erzeugen und unter dem äußeren Druck der Veränderung sich im Leben erhalten. Eine Erklärung jedoch, warum dies geschieht, fehlt vollständig. Die von Goethe eingeforderte synthetische Perspektive, die den menschlichen »Verkehr mit Natur« erst zu einem sinnvollen Unternehmen macht, ist hier ausgeklammert.
Diese Leerstelle ist denn auch die eigentliche Provokation der anthropologischen Studien Darwins. Als er 1871
The Descent of Man
veröffentlichte, hat die Diskussion über die Grundfragen der Anthropologie bereits ihren ersten Höhepunkt überschritten. So kann Darwin auf Thomas Henry Huxley (1825–1895), Ernst Haeckel (1834–1919) und August Schleicher (1821–1919) verweisen, wenn er behauptet, dass die anthropologische Fragestellung im Horizont einer allgemeinen biologischen Perspektive zu verhandeln und die Frage der Abstammung des Menschen kein grundsätzlich unlösbares Problem sei. Die vergleichende Anatomie und Ontogenese liefern ihm die Tatsachen, die für die Gleichbetrachtung des Menschen und anderer organischer Formen sprechen.
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