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Philosophische Anthropologie

Philosophische Anthropologie

Titel: Philosophische Anthropologie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerald Hartung
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ontologischen Stufenmodell von anorganischer und [60] organischer Welt, wobei Letztere in die Sphären Pflanzenreich, Tierreich, Menschenwelt untergliedert ist. Nur der Mensch lebt nach Schelers Ansicht immer schon – zwar nicht ursprünglich, aber seiner Idee nach – in der Möglichkeit einer existenziellen Entbundenheit vom Organischen. Während das Tier grundsätzlich umweltgebunden ist, müssen wir den Menschen als weltoffen begreifen. Die Bedingung der Möglichkeit von Umweltentbundenheit und Weltoffenheit nennt Scheler »Geist«. (Scheler 1998, 32)
    »Geist« meint eine strukturelle Bedingung menschlichen Seins dafür, dass eine faktische Distanzierung von den unausweichlichen Zwängen der Außenwelt möglich ist. Menschwerdung ist nichts anderes als das prozessuale Aushalten der Spannung zwischen der natürlichen Bedingtheit menschlichen Seins einerseits und der Fähigkeit zur Distanznahme andererseits. Scheler spricht vom »Neinsagenkönnen« als einem Akt der Befreiung von den Zwängen des Lebensimpulses, denen das Tier, wie verfeinert auch immer sein Verhalten gegenüber seiner Umwelt sein mag, dennoch restlos untersteht. Nur der Mensch ist ein »Asket des Lebens«, ein »ewiger Protestant gegen die bloße Wirklichkeit«. (Scheler 1998, 44)
    Schelers Bild der Menschwerdung als Vorgang der Distanzierung des Menschen von der Gebundenheit seiner natürlichen Seinsweise hat weitreichende Konsequenzen. Zuallererst bedeutet es faktisch, dass der Mensch sich selbst aus der Natur herausstellt, in die er wie jedes organische Wesen von Geburt an hineingestellt ist. Erst im Akt des Sichherausstellens aus der Natur wird diese für ihn objektivierbar. Der Mensch entwickelt Weltbewusstsein und in der Reflexion auf seine »exzentrische« Position Selbstbewusstsein. Auf diesem Niveau überschreitet er sich selbst als Naturwesen und wird seiner selbst als Geistwesen, seiner »weltexzentrischen Seinsart« (Scheler 1998, 69) gerecht. Der Mensch ist das Sonderwesen, das sein Zentrum nicht in der Welt finden kann, in die es von Natur aus hineingestellt ist. Deshalb greift [61] er notwendig über seine Welt hinaus, er greift ins Absolute oder Nichts, er fragt nach Gott.
    Mit Max Scheler kommt die philosophische Anthropologie auf den Begriff. Programmatisch gesehen löst sich jedoch das anthropologische Denken vom Zugriff der Naturforschung. Ausgehend von der Behauptung, dass die Wissenschaften im Hinblick auf die zentrale Frage »Was ist der Mensch?« keinen Hinweis geben können, sondern diesen vielmehr von einer philosophischen Anthropologie empfangen müssen, zielt Scheler letztendlich auf eine Metaphysik des Menschen ab.
Helmuth Plessner
    Helmuth Plessner (1892–1985) hat nahezu zeitgleich mit Max Scheler an der Grundlegung einer philosophischen Anthropologie gearbeitet, stand aber lange Zeit im Schatten des Begründers dieser neuen Disziplin. Sein Hauptwerk
Die Stufen des Organischen und der Mensch
(1928) ist eine eigenständige Konzeption, die auf der Philosophie Kants, der Lebensphilosophie um 1900 und Hans Drieschs
Philosophie des Organischen
(1909) aufruht. Wie Scheler geht es auch Plessner um eine Gesamtperspektive auf das menschliche Leben, er beschreitet allerdings einen anderen Weg.
    Die philosophische Anthropologie hat nach Plessner die Aufgabe, den Blick frei zu machen für eine naturphilosophische Begründung der Stellung des Menschen im Gesamtzusammenhang der lebendigen Welt. Auf diesem Weg soll die doppelte Wahrheit, nach welcher der Mensch ein Natur- und Geistwesen ist, vermieden werden. Denn die Beschreibung der geistigen Welt des Menschen kann nur gelingen, wenn die Behandlung der körperlichen Sphäre menschlichen Lebens integriert wird. Die philosophische Anthropologie löst damit eine Vorgabe ein, die der Selbsterfahrung des Menschen entspricht, der »als sinnlich-sittliches Wesen in Einer, d. h. der menschlichen Existenz entsprechenden [62] Erfahrungsstellung [steht], welche ›Natur‹ und ›Geist‹ umspannt« (Plessner 1975, 25).
    Den Menschen in den Rahmen seiner Existenz zu stellen heißt, zu fragen, wie er mit seiner Existenz zu Rande kommt. Im Horizont dieser Fragestellung ist die Natur für den Menschen kein Erlebniszusammenhang, in den er gestellt sein kann oder auch nicht, sondern sie ist seine Wirklichkeit, also »das Fundament und der Rahmen seiner Existenz von der Geburt bis zum Tod« (Plessner 1975, 27). Was hier als Natur bezeichnet wird, ist dementsprechend nicht die von den

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