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Philosophische Anthropologie

Philosophische Anthropologie

Titel: Philosophische Anthropologie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerald Hartung
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der Abstammungslehre Darwins, denn am Maßstab der organischen Welt ist der Mensch nicht festgestellt, das heißt nicht umweltgebunden, also orientierungslos. Andererseits ist auch gemeint, dass der Mensch vor der Aufgabe steht, sich eine Umwelt zu schaffen, die ihm Orientierung ermöglicht.
    Nietzsche bringt das anthropologische Denken im Zeichen der Metaphysikkritik auf den Punkt. Der Mensch ist lediglich, was er aus sich macht. Er verwirklicht sich in dem Maß, in dem er die riskante Aufgabe der Lebensbewältigung löst. Der wirkliche Mensch Nietzsches ist das Ergebnis einer Selbstermächtigung. Hier zeigt sich eine Parallele zur Existenzphilosophie Kierkegaards: Der wirkliche Mensch wird im Koordinatenkreuz von Natur und Gesellschaft als eine Ausnahme begriffen, die jedweder Regelhaftigkeit und Normierung entgegensteht.
Soziologie und Pragmatismus
    Georg Simmel (1858–1918) erkennt in diesem Szenario den Ausdruck einer nie zuvor empfundenen »Kulturnot«. Am Ende des 19. Jahrhunderts hat sich nach Simmels Ansicht die Suche nach einer neuen Weltanschauung in der Arbeit am Begriff des Lebens verdichtet. Unter dem Oberbegriff einer Philosophie des Lebens wird der Versuch unternommen, die grundlegenden Probleme im Verhältnis von Mensch und Wirklichkeit der Deutungsmacht des Darwinismus zu entziehen. Der neue Lösungsweg zielt seiner Ansicht nach auf eine »Metaphysik des Lebens« ab.
    [80] Weil die Frage »Was ist der Mensch?« durch die materialistischen und biologischen Doktrinen verstellt ist, drückt sich für Simmel auf der Ebene soziologischer Kulturanalyse »der Kampf des Lebens um sein Selbst-Sein« (Simmel 1987, 158) aus. Und er fügt hinzu, dass hier ein Grundkonflikt zutage tritt, der, obwohl er in allen geschichtlichen Epochen der Menschheit produktiv wirksam war, erst in der modernen Kultur »die ganze Breite der Existenz« (Simmel 1987, 173) erfasst hat. Der soziologische Diskurs zur Anthropologie bewegt sich auch über Simmel hinaus an den Rändern von Lebensphilosophie und aufkommender Existenzphilosophie. In den Studien zur modernen Gesellschaft, insbesondere zur Wirtschaftsform des »siegreichen Kapitalismus« (Max Weber) und seiner Auswirkung auf das gesamte Sozialleben, artikuliert sich über weite Strecken ein skeptischer Grundton. So attestiert Max Weber (1864–1920) dem modernen Menschen eine »Sinnlosigkeit der rein innerweltlichen Selbstvervollkommnung zum Kulturmenschen« (Weber 1920/1, 569). Und Karl Mannheim (1893–1947) diagnostiziert eine »elementare Lebensverlegenheit« des Menschen seiner Zeit, die zu Ende gedacht das Problem aufwirft, wie »überhaupt noch denken und leben?« (Mannheim 1995, 38) In dieser Zuspitzung steht die soziologische Forschung des frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland mit Blick auf die anthropologische Grundproblematik weitestgehend im Schatten der Lebensphilosophie.
    Erst durch den Einfluss des amerikanischen Pragmatismus kommt ein neuer Impuls in diese Debatte. Vor allem John Dewey (1859–1952) hat einen Beitrag dazu geleistet, dass die Frage nach dem Menschen aus der unproduktiven Konfrontation von materialistischen und idealistischen Positionen heraustritt. Sein Versuch, den Denkansatz Hegels mit der Methode Darwins zusammenzubringen, ist kaum zu überschätzen. Nach Deweys Ansicht ist die Behauptung, dass der Mensch am Maßstab des Naturgeschehens bemessen physisch und existenziell bedeutungslos ist, zugleich in [81] wissenschaftlicher Hinsicht richtig und in philosophischer Hinsicht irrelevant. Denn menschliches Leben steht in einem Horizont von Bedeutungen, die mehr sind als bloße Wirkungen physischen Lebens. (Dewey 2003, 9–11) Gleichwohl steht der Mensch nach Dewey inmitten des lebendigen Naturprozesses und reflektiert in seinem Denken und Handeln die Beweglichkeit und Veränderlichkeit des Seins.
    Diesen Grundgedanken Hegels kombiniert Dewey mit dem darwinschen Modus der Anpassung. Sowohl auf der Ebene der physischen und organischen Existenz als auch im Bereich der menschlichen Bedeutungswelt geht es um die Einbindung eines Organismus in eine Umwelt, eines Individuums in eine Allgemeinheit. Die Anpassung an eine natürliche Umwelt und Einpassung in eine soziale Welt ist eine Form des menschlichen Tätigseins. Der wirkliche Mensch wird von Dewey durch den Umkreis seines Denkens und Handelns definiert. Dabei unterscheidet er nicht zwischen dem physischen und psychischen Bereich menschlichen Tätigseins, sondern fasst dieses strikt

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