Philosophische Anthropologie
antidualistisch in einem einheitlichen Handlungsbegriff zusammen. Die Pointe dieser Überlegungen lautet: Gerade weil Dewey die naturhafte Seite menschlichen Lebens zum Fundament seiner Theorie erhebt, kann er den ganzen Menschen, das »sich in der Welt betragende Ich«, wieder in den Blick nehmen.
William James (1842–1910) hingegen hat den Schwerpunkt seiner Argumentation auf die Einheit menschlicher Erfahrung gelegt. Die Lehre des Pragmatismus ist seiner Ansicht nach mit der Einsicht verknüpft, dass es für die Menschen keine andere als die menschliche Sicht auf die Umwelt gibt. Das impliziert einerseits in naturphilosophischer Absicht eine unvermeidbare anthropomorphistische Weltsicht, denn »die Spur des Menschlichen durchzieht […] alles« (James 2001, 70). Und das meint zugleich in erkenntnistheoretischer Absicht, dass alle Wahrheitsfragen als Geltungsfragen zu verstehen sind. »Der Mensch erzeugt Wahrheiten, die in der Welt gelten.« (James 2001, 161) Dieser Gedanke erinnert [82] durchaus an Nietzsche, aber James geht es nicht darum, den Menschen noch einmal als Maß aller Dinge zu erfassen. Wie bei Dewey hängt auch bei ihm die Orientierungskraft von Handlungsabläufen und Bedeutungsgehalten an einer gelingenden Einpassung in einen sowohl naturhaften als auch kulturellen Kontext. Der Gedanke einer Konstituierung des Selbst durch Einpassung in die jeweiligen sprachlichen, sittlichen, sozialen und politischen Kontexte ist der pragmatistische Gegenentwurf zu den Denkfiguren, die den wirklichen Menschen entweder in seiner Allgemeinheit oder in seiner radikalen Besonderheit sehen.
Von der Lebensverlegenheit deutscher Soziologie ist dementsprechend im amerikanischen Pragmatismus wenig zu spüren. Gleichwohl dominiert auch hier das philosophische Interesse, die Frage nach dem ganzen Menschen grundsätzlich offen zu halten. In dieser Hinsicht hat George Herbert Mead (1863–1931) sicherlich einen gewichtigen Beitrag geleistet. (Joas/Knöbl 2004, 183ff.) Und zwar durch die Feststellung, dass der Prozess der Menschwerdung in Wechselwirkung mit einer spezifischen Umwelt stattfindet, die sowohl eine natürliche als auch eine gesellschaftliche ist. Der sich entwickelnde Mensch steht, wie die Individualpsychologie lehrt, in Verbindung mit einer natürlichen und kulturellen Ordnung, die ihm, wie Mead betont, durch »signifikante Andere« vermittelt wird. Jeder Mensch ist von seiner Geburt an auch in seiner organischen Entwicklung dem Eingriff gesellschaftlicher Wirkkräfte ausgesetzt. Um die Analyse dieses Wechselverhältnisses geht es bei Mead. Dieser Grundgedanke wird gleichsam richtungweisend für das anthropologische Denken im 20. Jahrhundert. Der Versuch einer Synthese von Hegel und Darwin gewinnt bei Mead für das anthropologische Denken seine volle Durchschlagskraft. Das menschliche Selbst, um das es Mead in seinem Hauptwerk
Mind, Self and Society
(1932) geht, wird in einem Doppelaspekt von organischer Entwicklung und gesellschaftlicher Prozessualität erfasst. Der Mensch ist die Synthese [83] seiner naturhaften und seiner soziokulturellen Seite, wobei beide Seiten als Variablen zu verstehen sind.
Erst mit großer Verspätung ist über die Arbeiten der Soziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann eine Verbindung der meadschen Theorie und der Tradition philosophischer Anthropologie möglich geworden. Nun hat bereits Gehlen die meadsche Handlungstheorie rezipiert, aber den anthropologischen Grundgedanken, dass der Mensch eine Synthesis jeweils variabler naturhafter und soziokultureller Faktoren ist, hat er verpasst. Erst Berger und Luckmann ziehen in ihrem Werk
Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit
(1966) die wohl radikalste Konsequenz aus beiden Traditionslinien und formulieren das Diktum »Menschsein ist sozio-kulturell variabel« (Berger/Luckmann 1980, 51). Ihrer Ansicht nach werden die soziokulturellen Gebilde wie Sprache, Sitte oder Religion nicht durch die biologische Natur des Menschen determiniert. Menschliche Natur gibt es nur in Form anthropologischer Konstanten (Weltoffenheit, Sprachfähigkeit, Formbarkeit der Instinkte), deren Wirksamkeit darauf abzielt, soziokulturelle Schöpfungen des Menschen (Sprache, Sitte, Religion usw.) zu ermöglichen und zugleich zu beschränken. »So kann man zwar sagen: der Mensch hat eine Natur. Treffender wäre jedoch: der Mensch macht seine eigene Natur – oder, noch einfacher: der Mensch produziert sich selbst.« (Berger/Luckmann 1980, 51)
Nach Berger
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