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Philosophische Anthropologie

Philosophische Anthropologie

Titel: Philosophische Anthropologie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerald Hartung
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und Luckmann können wir davon sprechen, dass der Mensch in biologischer Hinsicht dazu bestimmt ist, eine Welt zu konstruieren und mit anderen zu bewohnen, deren Grenzen ihm von der Natur gesetzt sind. Und wir müssen hinzufügen, dass eine Dialektik zwischen Natur und gesellschaftlich konstruierter Wirklichkeit bewirkt, dass Natur, also auch der menschliche Organismus selbst, durch kulturelle und soziale Einflüsse verändert wird. Das Muster der Selbst-Produktion ist Objektivation (Dilthey) und Verdinglichung (Marx). Im Regelfall gelingt der Vorgang der naturhaften und soziokulturellen An- und Einpassung des [84] Selbst. In der Ausnahme zeigt sich das »Paradoxon, daß der Mensch fähig ist, eine Welt zu produzieren, die er dann anders denn als ein menschliches Produkt erlebt« (Berger/Luckmann 1980, 65). Wissen über sein Selbst erlangt der Mensch nur, wenn er sich gemäß seiner konstitutiven Weltoffenheit im Denken und Handeln in der Spannung hält, sich zugleich als Produzent seiner Wirklichkeit und als Produkt zu erleben. Berger und Luckmann zufolge entsteht Wissen vom Selbst und seiner Wirklichkeit in dieser Dialektik von Produktion und Erlebnis und in der Objektivation durch Sprache. Nur auf dem Weg sprachlicher Vermittlung wird etwas zum Objekt des Wissens, das innerhalb eines sozialen Miteinanders den Anspruch auf Wahrheit erheben kann.
    Das jamessche Diktum, dass der Mensch Wahrheiten erzeugt, die in seiner Welt gelten, wird von den Soziologen auf eine breite anthropologische Basis gestellt. Im Rückgriff auf die Studien zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung von Marx und zum Geist des Kapitalismus von Weber können sie zeigen, welche Bedeutung dieser Vorgang der Externalisierung als Muster der Vergesellschaftung hat. Er eröffnet den Institutionen des sozialen Lebens eine Geltung, die sie unabhängig vom Interesse der Gesellschaftsglieder macht und ermöglicht die Entstehung symbolischer Sinnwelten. »Die Ursprünge einer symbolischen Sinnwelt liegen in der Verfassung des Menschen begründet. Wenn der Mensch in seiner Gesellschaft ein Welterbauer ist, so ist er das nur auf Grund seiner konstitutionellen Weltoffenheit […]. Menschliche Existenz ist ab initio eine ständige Externalisierung. Indem der Mensch sich entäußert, errichtet er die Welt, in die hinein er sich entäußert.« (Berger/Luckmann 1980, 111)
    In dieser Umschreibung wird die den Menschen auszeichnende Fähigkeit charakterisiert, sich selbst zu bestimmen und damit grundsätzlich alle Muster der Vorherbestimmung zu unterlaufen. Auf diese Weise wird in der soziologischen Theorie der Perspektivenwechsel vollzogen, der sich im Verhältnis von Mensch und Gesellschaft seit dem frühen [85] 19. Jahrhundert abgezeichnet hat. Statt hinter dem scheinbaren Wechsel sozialer Verhältnisse das wahrhaft Dauernde in der Ordnung der Dinge zu suchen, wird konsequent das Wandelbare als das Wahre angesehen. Menschsein ist soziokulturell variabel – so lautet das vorläufig letzte Wort der doppelten Destruktionsarbeit an den ideellen und naturhaften Fundamenten der Gesellschaftsordnung. Die Antwort auf die Frage »Was ist der Mensch?« wird in den Horizont »echter Geschichtlichkeit« (Helmuth Plessner) gerückt. Denn unter den vorgezeichneten biologischen Rahmenbedingungen seiner Existenz ist der Mensch allein verantwortlich für das Bild, das er sich von sich selbst entwirft. Jedes Menschenbild hat einen geschichtlichen und normativen Index. »Sich und die Welt anders sehen heißt für den Menschen eben auch anders sein«, erläutert Plessner diesen Sachverhalt pointiert. (Plessner 1985/10, 60)

[86]
Der Mensch in der Kultur
    Das Verhältnis des Menschen zur Kultur ist vielschichtig. Der alte Gegensatz von Geist und Leben wird in den von Kultur und Natur transformiert. Was Kultur heißt, unterliegt zusehends einem Rechtfertigungsdruck gegenüber der Naturhaftigkeit (Gattung, Volk, Rasse) des Menschseins. Die partikularen Kräfte, denen es im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vor allem auf die Differenzen zwischen den Kulturen ankommt, erklären den Begriff des Geistes als suspekt. Diese Entwicklung zieht sich von Joseph Arthur Graf von Gobineaus
Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen
(1853) bis zu Alfred Rosenbergs Schrift
Der Mythos des 20. Jahrhunderts
(1930).
    Die Verabschiedung einer einheitlichen Kulturform »Geist« ist um 1900 unaufhaltsam, führt aber nicht unbedingt zu einer ideologischen Verzerrung. Schon auf der Ebene der

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