Phobia: Thriller (German Edition)
sie eine weitere schlaflose Nacht im Bett verbringen und Manuskripte lesen, die sie eigentlich nicht mochte.
Etwa eine Viertelstunde und etliche Grausamkeiten später – sie hatte gerade erfahren, was man mit Batteriesäure an weiblichen Genitalien anrichten konnte – hörte sie das leise Trappeln nackter Füße auf dem Gang.
»Mummy!«
Harvey kam ins Schlafzimmer gelaufen, und Sarah fuhr beim Anblick ihres sechsjährigen Sohnes erschrocken hoch. Sein Gesicht, auf dem sich eine Schlaffalte über die linke Wange zog, glänzte vor Schweiß, und das feine blonde Haar klebte ihm an der Stirn. Tränen standen in seinen Augen.
»Harvey, Schatz, was ist denn los?«
Er kam zu ihr, kroch unter die Decke und schmiegte sich an seine Mutter.
»Da ist jemand im Garten.«
Sie hob erstaunt die Brauen. »Wie? Wer um alles in der Welt sollte denn mitten in der Nacht in unserem Garten sein?«
»Ein Mann.«
»Ein Mann? Liebling, das war bestimmt nur wieder so ein Traum, wie der von dem schwarzen Hund.«
»Nein«, versicherte Harvey und lugte ängstlich unter der Decke hervor. »Ich bin aufgewacht, weil er an mein Fenster geklopft hat, immer wieder.«
»Er soll an dein Fenster geklopft haben? Aber das kann nicht sein.«
»Doch«, beharrte er und klammerte sich noch fester an sie.
»Schatz, wir sind hier im ersten Stock. Er müsste fliegen können, um an dein Fenster zu klopfen.«
»Er hat es aber getan. Wirklich!«
Sie strich ihm zärtlich das schweißfeuchte Haar aus der Stirn. »Also gut, lass uns rübergehen und nachsehen, dann wirst du mir glauben, dass es nur ein böser Traum gewesen ist.«
Harveys Augen weiteten sich. »Nein, lieber nicht! Vielleicht ist er noch da.«
Nun begann Sarah sich Sorgen zu machen. Zwar war sie gewohnt, dass hin und wieder die Fantasie mit Harvey durchging, wie bei allen Kindern seines Alters, und er hatte auch schon häufiger Albträume gehabt – erst vor einigen Wochen hatte er steif und fest behauptet, nachts einen großen schwarzen Hund in der Küche gesehen zu haben –, aber diesmal klang er anders als sonst.
Ängstlicher.
Überzeugter.
Sie sah die Furcht in den Augen ihres Sohnes und überspielte ihre Beunruhigung mit einem Lächeln.
»Also, mein Schatz, pass auf, wenn da wirklich ein Mann ist, werde ich ihn verjagen. Schließlich haben fremde Männer nichts in unserem Garten verloren. Und erst recht dürfen sie nicht an dein Fenster klopfen, wenn du schlafen sollst.«
»Du willst ihn verjagen? Ganz allein?«
»Sicher.« Sarah schlug die Decke zurück und stand auf. »Traust du mir das nicht zu?«
»Aber er ist groß. Mindestens so groß wie Dad.«
Sie streifte ihren Morgenmantel über und stemmte die Hände in die Hüften. Dann warf sie mit einer bühnenreifen Geste ihr langes blondes Haar zurück und sprach mit verstellter Stimme, die sich nach dem Riesen aus Harveys Lieblingsmärchen »Jack und die Bohnenranke« anhören sollte. »Na, dann warte mal ab, wie der sich aus dem Staub macht, wenn er deine riesenhafte Mum sieht. Sonst zermahle ich seine Knochen und mache daraus Brot. Fee! Fie! Foe! Fum!«
Sie hatte ihm diese Geschichte schon unzählige Male vorgelesen, und an dieser Stelle hatte Harvey immer gelacht, aber jetzt blieb er ernst.
Hatte er vielleicht doch jemanden gesehen?
Unsinn , schalt sie sich. Er hat nur wieder schlecht geträumt, das ist alles .
Doch als sie auf den dunklen Gang hinaustrat, war ihr selbst ein wenig mulmig zumute. Und dann hörte auch sie das Klopfen.
Sie blieb abrupt stehen und musste schlucken.
Kein Wunder, dass der Junge sich davor fürchtete. Es klang unheimlich.
Wie Fingernägel auf Glas .
5.
Es lag nun etwa ein Jahr zurück, dass ein mysteriöser Mann in Northumberland für Schlagzeilen gesorgt hatte. Immer wieder war er an verschiedenen Orten aufgetaucht und hatte Kinder erschreckt. Er sprang aus Hausecken und Seitengassen und verfolgte sie mit Gebrüll und irrem Gelächter, ehe er wieder verschwand.
Mehr tat er nicht, aber es genügte völlig, um die ganze Grafschaft in Angst und Schrecken zu versetzen. Beinahe täglich gab es neue Meldungen aus Newcastle, Rochester, Bamburgh, Corbridge, Warkworth und etlichen anderen Orten.
Die meisten dieser Vorfälle ereigneten sich am helllichten Tag, wenn die Kinder zur Schule gingen oder auf dem Nachhauseweg waren. Nur in zwei Fällen war der unheimliche Mann auch abends in Erscheinung getreten – aber dennoch gab es außer den Kindern selbst keine Zeugen. Jedes Mal verschwand der
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