Physiologie der Ehe (German Edition)
so tödlich ist wie das verhängnisvolle Fallbeil des Scharfrichters. Hiermit gelangen wir zum letzten Paragraphen vorliegender Betrachtung.
3. Die Schamhaftigkeit in bezug auf die Ehe
Ehe wir uns mit der Schamhaftigkeit beschäftigen, wäre es vielleicht nötig, festzustellen, ob sie überhaupt existiert. Ist sie nicht etwa bei der Frau nur eine geschickt angewandte Koketterie? Sollte es nicht etwa nur das Gefühl sein, daß sie die freie Verfügung über ihren Körper hat? Man bedenke, daß die Hälfte aller Frauen auf der Erde beinahe nackt gehen. Sollte sie etwa nur eine soziale Schimäre sein? Dies behauptete Diderot, indem er den Einwand erhob, daß dies Gefühl vor der Krankheit und dem Elend nicht standhalte.
Auf alle diese Fragen läßt sich wohl eine Antwort geben.
Ein nachdenklicher Schriftsteller hat kürzlich behauptet, die Männer besäßen viel mehr Schamhaftigkeit als die Frauen. Er hat zur Unterstützung dieser Behauptung eine große Anzahl chirurgischer Beobachtungen mitgeteilt; sollten aber seine Schlußfolgerungen unsere Aufmerksamkeit verdienen, so müßten eine gewisse Zeit hindurch die Männer von Chirurginnen behandelt werden.
Die von Diderot ausgesprochene Meinung fällt noch weniger ins Gewicht.
Wenn man das Vorhandensein der Scham leugnet, weil diese in Krisen verschwindet, in denen fast alle menschlichen Gefühle untergehen, so ist das dasselbe, wie wenn man behaupten wollte, es gäbe kein Leben, weil auf jedes Leben der Tod folgt.
Wir wollen annehmen, daß das eine Geschlecht so viel Schamhaftigkeit besitzt wie das andere, und wollen untersuchen, worin diese besteht.
Nach Rousseau entsteht die Schamhaftigkeit aus den Koketterien, die alle Weibchen anwenden müssen, um das Männchen an sich zu ziehen. Auch diese Meinung scheint uns ein Irrtum zu sein.
Die Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts haben der menschlichen Gesellschaft ohne Zweifel unermeßliche Dienste erwiesen; aber ihre auf dem Sensualismus beruhende Philosophie ist nicht einmal unter die menschliche Haut eingedrungen. Sie haben nur die äußere Welt in Betracht gezogen; und schon hierdurch verzögerten sie für einen gewissen Zeitraum die sittliche Entwicklung des Menschen und die Fortschritte einer Wissenschaft, die ihre Urelemente stets dem Evangelium entnehmen wird, das die eifrigen Jünger des Menschensohnes in Zukunft besser begreifen werden.
Das Studium der Geheimnisse des Denkens, die Entdeckung der Organe der menschlichen ›Seele‹, die Ausmessung ihrer Kräfte, die Erkenntnis der Eigenschaften ihrer Kraft, das Eindringen in ihre scheinbare Fähigkeit, sich unabhängig vom Leibe zu bewegen, sich überall hinzubegeben, wohin sie will, und ohne Hilfe der körperlichen Organe zu sehen, endlich die Bestimmung ihrer dynamischen Gesetze und ihres physischen Einflusses – dies alles bildet den glorreichen Anteil des nächsten Jahrhunderts am Schatze der menschlichen Wissenschaften. Und unsere augenblickliche Beschäftigung besteht vielleicht nur darin, die riesigen Blöcke zuzuhauen, die später irgendeinem gewaltigen Genius dazu dienen werden, ein glorreiches Gebäude aufzuführen.
So ist Rousseaus Irrtum der Irrtum seines Jahrhunderts gewesen. Er erklärt die Schamhaftigkeit aus den Beziehungen der Menschen untereinander, statt sie aus den sittlichen Beziehungen zu erklären, die der Mensch zu seinem eigenen Wesen hat. Die Schamhaftigkeit läßt sich ebensowenig analysieren wie das Gewissen; vielleicht aber liegt ein instinktmäßiges Verständnis darin, wenn man sie das Gewissen des Leibes genannt hat; denn das Gewissen lenkt unsere Gefühle und die geringsten Verrichtungen unseres Denkens dem Guten zu, wie die Schamhaftigkeit über den äußerlichen Bewegungen waltet. Handlungen, die unsern Interessen zu nahe treten und gleichzeitig gegen die Gesetze des Gewissens verstoßen, verletzen uns tiefer als alle andern; und werden sie wiederholt, so entspringt aus ihnen ein Gefühl des Hasses. Ebenso verhält es sich in bezug auf die Liebe – die nichts weiter ist als der Ausdruck unserer ganzen Sinnlichkeit – mit allen Handlungen, die der Scham zuwiderlaufen. Wenn eine hochgesteigerte Schamhaftigkeit eine der Lebensbedingungen der Ehe ist – wie wir im ›Ehestandskatechismus‹, Betrachtung IV , zu beweisen versucht haben – so leuchtet es ein, daß Zuchtlosigkeit die Ehe zersetzen wird. Aber dieser Grundsatz, zu dessen Erklärung der Physiologe langer Erörterungen bedarf, wird von der Frau fast stets
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