Physiologie der Ehe (German Edition)
im Jahr. Diese verd ... Frauen haben stets entweder die Migräne oder – sonst was!«
Die Migräne vertritt in Frankreich die Stelle der Sandalen, die in Spanien der Beichtvater vor der Tür des Zimmers läßt, worin er sich mit seinem Beichtkind befindet.
Wenn deine Frau, im Vorgefühl feindlicher Absichten von deiner Seite, sich so unverletzlich machen will wie die Charte, so beginnt sie ein richtiges kleines Migränekonzert aufzuführen. Sie legt sich mit den fürchterlichsten Schmerzen von der Welt zu Bett. Sie stößt leise Schreie aus, die einem in die Seele schneiden. Sie vollführt mit Anmut alle möglichen Körperbewegungen mit einer Geschicklichkeit, daß man glauben könnte, sie habe keine Knochen im Leibe. Welcher Mann wäre da wohl so taktlos, um einer an derartigen Schmerzen leidenden Frau von Wünschen zu sprechen, die bei ihm ein Anzeichen der vollkommensten Gesundheit sind? Die bloße Höflichkeit erheischt gebieterisch, daß er schweigt. Von nun an weiß eine Frau, daß sie mit Hilfe ihrer allmächtigen Migräne nach Belieben über dem Ehebett gewissermaßen einen Anschlagzettel anbringen kann, wie jenen, der die durch eine Ankündigung der Comédie-Française angelockten Theaterliebhaber zu schneller Umkehr veranlaßt, wenn sie auf dem übergeklebten Streifen lesen: ›Wegen plötzlichen Unwohlseins der Mademoiselle Mars – keine Vorstellung.‹
O Migräne, Beschützerin der unerlaubten Liebesverhältnisse – Steuer, die jeder Ehemann bezahlen muß – Schild, auf dem alle Wünsche des Gatten sich zum Sterben ausstrecken müssen! O gewaltige Migräne! Ist es wirklich möglich, daß die Liebenden dich noch nicht verherrlicht, angebetet, wie eine Gottheit verehrt haben? O Migräne, Meisterin der Gaukelei! O Migräne, Meisterin der Verstellung! Gebenedeiet sei das Hirn, das dich zuerst ersann! Schande dem Arzt, der ein Mittel gegen dich erfinden würde! Ja, du bist das einzige Leiden, das die Frauen segnen, ohne Zweifel aus Dankbarkeit für die Wohltaten, die du ihnen erweisest – o Migräne, Meisterin der Verstellung! O, Migräne, Meisterin der Gaukelei!
2. Die Nervosität
Es gibt aber eine Macht, die selbst der Migräne noch überlegen ist; und zu Frankreichs Ruhm müssen wir gestehen, daß diese Macht eine der neuesten Errungenschaften des Pariser Geistes ist. Wie bei allen wichtigsten Entdeckungen auf den Gebieten der Künste und der Wissenschaften weiß man auch bei dieser nicht, welchem Genie wir sie verdanken. Nur so viel ist gewiß, daß gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts die ›Vapeurs‹ zum erstenmal in Frankreich auftraten. Während also Papin die Kraft vaporisierten Wassers auf Probleme der Mechanik anwandte, vollbrachte eine leider unbekannte Französin die ruhmvolle Tat und beschenkte ihre Geschlechtsgenossinnen mit der Fähigkeit, ihre Fluida vaporisieren zu können. Die wunderbaren Wirkungen, die man dank den Vapeurs erzielte, lenkten die Aufmerksamkeit auf die Nerven; und so entstand, von Fiber zu Fiber, die Neurologie. Diese wunderbare Wissenschaft hat bereits Philipps und andere geschickte Physiologen auf die Entdeckung des Nervenfluidums und seines Umlaufs gebracht; vielleicht stehen sie unmittelbar vor der Entdeckung seiner Organe, seines bis jetzt noch unbekannten Entstehens und seiner Verflüchtigung. Und so werden wir, dank einigen Mätzchen unserer Damen, eines Tages dahin gelangen, in die Geheimnisse jener unbekannten Macht einzudringen, die wir in diesem Buche schon mehr als einmal als ›Willen‹ bezeichnet haben. Aber wir wollen uns nicht auf das verbotene Gebiet der medizinischen Philosophie begeben, sondern die Nerven und die Vapeurs nur in ihren Beziehungen zur Ehe betrachten.
Bei der Nervosität – unter dieser pathologischen Bezeichnung begreift man alle Leiden des Nervensystems – sind hinsichtlich des Gebrauchs, den die verheirateten Frauen davon machen, zwei Arten zu unterscheiden; denn gegen medizinische Klassifikationen empfindet unsere Physiologie den stolzesten Abscheu. Für uns gibt es also nur:
Die klassische Nervosität,
Die romantische Nervosität.
Den Anfällen der klassischen Nervosität ist etwas Kriegerisches und Lebhaftes eigen. Die Frauen, bei denen diese klassischen Anfällen auftreten, sind heftig wie Wahrsagerinnen, zügellos wie Mänaden, aufgeregt wie Bacchantinnen – es ist reines klassisches Altertum.
Die Frauen mit romantischen Anfällen sind sanft und klagend wie Balladen, die in schottischen Nebeln gesungen werden. Sie
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