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Physiologie der Ehe (German Edition)

Physiologie der Ehe (German Edition)

Titel: Physiologie der Ehe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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mechanisch angewandt; denn die Gesellschaft, die im Interesse des äußern Menschen alles übertreibt, entwickelt in der Frau schon von Kindesbeinen an dieses Gefühl, das den Mittelpunkt für fast alle andern bildet. In dem Augenblick, wo dieser unermeßliche Schleier fällt, der der kleinsten Bewegung ihre natürliche Brutalität nimmt, verschwindet daher die Frau. Seele, Herz, Geist, Liebe, Anmut – alles stürzt zusammen. In einer Lage, in der die jungfräuliche Unschuld eines Mädchens von Otahiti erglänzt, wird die Europäerin greulich. Und dies ist die letzte Waffe, die eine Ehefrau ergreift, um sich vom Zwange des Gefühls zu befreien, das ihr Gatte ihr noch entgegenbringt. Ihre Häßlichkeit ist ihre Stärke; und dieselbe Frau, die es als das größte Unglück betrachten würde, wenn ihr Liebhaber auch nur das unbedeutendste Geheimnis ihrer Toilette sähe – sie wird sich ein Vergnügen daraus machen, sich ihrem Gatten in der unvorteilhaftesten Situation zu zeigen, die sie nur ersinnen kann.
    Mit einer rücksichtslosen Anwendung dieses Systems wird sie versuchen, dich aus dem Ehebett zu vertreiben. Frau Shandy fragte Tristrams Vater in aller Unschuld, ob er auch nicht vergessen hätte, die Uhr aufzuziehen; deine Frau dagegen wird sich ein Vergnügen daraus machen, dich durch die unzweideutigsten Fragen zu unterbrechen. Wo bisher Bewegung und Leben war, ist jetzt Ruhe und Tod. Eine Liebesszene wird zu einem Geschäftsabschluß, bei dem es lange Debatten gibt, über den sozusagen eine notarielle Urkunde aufgenommen wird. Aber wir haben an andern Stellen hinreichend bewiesen, daß wir uns gegen die komische Seite gewisser ehelicher Krisen nicht verschließen; darum sei uns hier gestattet, auf die komischen Wirkungen zu verzichten, die die Muse eines Verville und Martial in der Heimtücke weiblicher Manöver finden könnten, in der beleidigenden Kühnheit der Worte, im Zynismus mancher Situationen. Die Sache ist zu traurig, um darüber zu lachen, und zu komisch, um sich darüber zu betrüben. Wenn eine Frau bei solchen äußersten Mitteln angelangt ist, liegen Welten zwischen ihr und ihrem Gatten. Trotzdem gibt es gewisse Frauen, denen der Himmel die Gabe verliehen hat, allem einen lieblichen Anstrich zu geben, die in diese Dinge eine gewisse geistreiche und komische Anmut hineinzubringen wissen, und die, wie Sully sich ausdrückte, einen so hübschen spitzen Schnabel haben, daß ihnen ihre Launen und Unarten verziehen werden und sie trotz allem sich nicht das Herz ihrer Gatten entfremden.
    Welche Seele ist so kräftig, welcher Mann ist so stark in seiner Liebe, um nach einer zehnjährigen Ehe noch in seiner Leidenschaft zu verharren, eine Frau zu lieben, die ihn nicht mehr liebt, die ihm dies zu jeder Stunde beweist, die ihn zurückstößt, die absichtlich ärgerlich, boshaft, krank, launenhaft ist, die sogar auf Eleganz und Sauberkeit verzichtet, damit nur ja ihr Mann von ihr abläßt, die sogar auf den Abscheu rechnet, den die Schamlosigkeit einflößt?
    Dies alles, mein werter Herr, ist aber noch viel fürchterlicher, denn:
     
    XCI. Liebende wissen nichts von Schamhaftigkeit.
     
    Und nun sind wir beim letzten Höllenkreise der göttlichen Komödie der Ehe angelangt; wir sind in der tiefsten Hölle.
    Es liegt etwas unerklärbar Schreckliches in der Lage, in die eine verheiratete Frau gerät, wenn eine unerlaubte Liebe sie ihren Pflichten als Mutter und Gattin entzieht. Nach Diderots sehr treffendem Ausdruck ist die Untreue bei einer Frau wie der Unglaube bei einem Priester der höchste Grad menschlicher Pflichtvergessenheit; es ist das größte soziale Verbrechen, das die Frau begehen kann. Denn es schließt für sie alle andern ein. Denn entweder entweiht die Frau ihre Liebe, indem sie fortfährt, ihrem Ehemann anzugehören, oder sie zerreißt alle Bande, die sie an ihre Familie knüpfen, indem sie sich ganz und gar ihrem Liebhaber hingibt. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten muß sie wählen, denn ihre einzige Entschuldigung ist das Übermaß ihrer Liebe.
    Sie lebt also zwischen zwei Missetaten: entweder macht sie ihren Liebhaber unglücklich, wenn seine Leidenschaft aufrichtig ist, oder sie macht ihren Mann unglücklich, wenn sie noch von ihm geliebt wird.
    Aus diesem furchtbaren Zwiespalt des weiblichen Lebens ergeben sich alle Bizarrerien in dem Verhalten der Frauen. Aus diesem Zwiespalt entspringen ihre Lügen, ihre Tücken, hierin liegt die Erklärung aller ihrer Geheimnisse. Dieser Gedanke kann

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