Picknick auf dem Eis (German Edition)
taut ihn richtig auf.«
Viktor, der auf seinen Platz zurückgekehrt war, beobachtete den Pinguin ebenfalls.
»Na schön«, Sergej nahm sein Glas in die Hand und wandte sich Viktor zu. »Wir würden alle den besten Fisch verdienen, aber wir essen, was da ist… Auf die Freundschaft!«
Sie stießen an und tranken einen Schluck. Viktor wurde ganz leicht ums Herz. Seine ganze frühere Unzufriedenheit mit sich selber und anderen war vergessen, und seine ›Kreuzchen‹ vergaß er auch. Als ob er nie gearbeitet, sondern einfach gelebt und sich einen Roman ausgedacht hätte, den er irgendwann schreiben würde. Er sah Sergej an und wollte ihn anlächeln. Freundschaft? Die hatte er vielleicht nie gehabt. Genausowenig wie einen dreiteiligen Anzug oder eine echte Leidenschaft. Sein Leben war blaß und trostlos, bereitete ihm keine Freude. Selbst Mischa-Pinguin war irgendwie traurig, als wenn auch er nur die Farblosigkeit des Lebens, ohne bunte Tupfer und Emotionen, ohne freudiges Dahinplätschern der Seele und ohne Begeisterung kennengelernt hätte.
»Hör mal«, schlug Sergej plötzlich vor. »Laß uns noch ein Glas trinken, und dann gehen wir spazieren. Zu dritt!«
Draußen war es ruhig. Es war spät. Alle Kinder schliefen schon. Die Straßenlaternen brannten nicht, und der erste Schnee wurde nur von zufälligem Licht aus zufällig erleuchteten Fenstern angestrahlt.
Viktor, Sergej und Mischa gingen langsam zu dem großen Platz, auf dem drei Taubenschläge standen. Der Schnee knirschte unter ihren Füssen. Die eiskalte Luft wehte ihnen um die Wangen.
»Sieh mal!« rief Sergej, der einige Schritte schneller nach vorne gegangen war und bei einem neben dem Taubenschlag im Schnee liegenden Menschen in einem blauen zerlumpten Mantel stehenblieb. »Dein Nachbar Polikarpow. Wohnung dreizehn. Wir müssen ihn in den nächsten Hauseingang schleppen und ihn an die Heizung lehnen, sonst erfriert er!«
Gemeinsam faßten sie den Kragen des blauen Mantels und zogen den betrunkenen Polikarpow über den Schnee zum nächsten Haus. Mischa-Pinguin watschelte schwerfällig hinter ihnen her.
Als Viktor und Sergej aus dem Hauseingang kamen, sahen sie Mischa Nase an Nase mit einem Hofköter stehen, als wenn sie sich gegenseitig beschnüffelten. Als der Hund die Menschen aus dem Hauseingang kommen sah, lief er davon.
16
Am Morgen wurde Viktor vom Klingeln des Telefons geweckt.
»Hallo!« sagte er verschlafen mit heiserer Stimme.
»Viktor Aleksejewitsch! Ich gratuliere Ihnen zum ersten Durchbruch. Ich habe Sie doch nicht geweckt?«
»Es ist sowieso Zeit aufzustehen!« erklärte Viktor, als er die Stimme des Chefs erkannte. »Was ist passiert?«
»Die erste Veröffentlichung! Apropos, wie fühlen Sie sich?«
»Schon besser.«
»Dann kommen Sie in die Redaktion! Wir müssen Ihren Erfolg besprechen.«
Viktor wusch sich, frühstückte, trank Tee und suchte seinen Zögling. Der schlief noch stehend in seiner Lieblingsecke hinter dem dunkelgrünen Sofa.
In der Küche legte Viktor einige gefrorene Dorschstücke in Mischas Schüssel. Er zog sich an und machte sich auf den Weg.
Auf der Straße lag frisch gefallener Schnee. Der graublaue Himmel hing tief, fast bis zu den Dächern der fünfstöckigen Häuser. Es war ruhig und nicht sehr kalt.
Bevor er in den Bus stieg, kaufte sich Viktor die neueste Ausgabe der ›Hauptstadtnachrichten‹. Auf dem weichen Sitz im Autobus schlug er sie auf, überflog die Schlagzeilen und fand endlich im oberen Rechteck einen Text, der mit dicken schwarzen Trauerbalken umrandet war. »Der Schriftsteller und Abgeordnete Alexander Jakornitzkij ist nicht mehr. Verwaist ist der Ledersessel in der dritten Reihe des Parlaments. Diesen Platz wird bald ein anderer einnehmen, aber in den Herzen vieler Menschen, die Alexander Jakornitzkij kannten, bleibt ein Gefühl der Leere, das Gefühl eines großen Verlusts…«
›Na bitte‹, dachte Viktor, ›die erste Veröffentlichung.‹
Aber ihm war nicht besonders fröhlich zumute, obwohl von irgendwoher ein lang vergessenes Gefühl in ihm aufstieg, das Gefühl der Zufriedenheit mit sich selbst. Er las den Text zu Ende. Alles war an Ort und Stelle, keinerlei Spuren einer redaktionellen Zensur.
Sein Blick blieb an der Unterschrift hängen, an dem phrasenhaften Pseudonym, hinter dem sich eine beliebige Anzahl von Leuten verstecken konnte – »Der Engste Freundeskreis«. Viktor hatte im Original beide Worte groß geschrieben, und selbst das hatte der Redakteur nicht
Weitere Kostenlose Bücher