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Picknick auf dem Eis (German Edition)

Picknick auf dem Eis (German Edition)

Titel: Picknick auf dem Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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geändert. Sie behandelten ihn tatsächlich so, als wenn er ein angesehener Schriftsteller wäre, und nicht irgendein Journalist.
    Die Zeitung sank ihm auf die Knie, Viktor betrachtete durch die Scheiben die dem Bus entgegenkommende Stadt.
    »Sieh mal, ein Vogel!« sagte eine vor ihm sitzende Mutter zu ihrem Kind und zeigte nach oben. Viktor sah unwillkürlich in die angegebene Richtung und entdeckte einen unter dem Dach des Busses herumirrenden Spatz.
    17
     
    Der Redakteur begrüßte Viktor so überschwenglich, als hätte er ihn ein Jahr lang nicht gesehen. Kaffee, Kognak und hundert Dollar in einem eleganten länglichen Umschlag – es konnte gefeiert werden.
    »Na bitte«, sagte Igor Lwowitsch und nahm ein Glas Kognak in die Hand. »Der Anfang wäre gemacht. Hoffen wir, daß die übrigen ›Kreuzchen‹ auch nicht lange liegenbleiben.«
    »Wie ist er denn gestorben?« fragte Viktor.
    »Er ist aus dem sechsten Stock gefallen. Angeblich hat er Fenster geputzt, nur aus irgendeinem Grund nicht bei sich zu Hause. Und das auch noch mitten in der Nacht.«
    Sie stießen an und tranken.
    »Weißt du«, plauderte der Chefredakteur vertraulich weiter, »mich haben schon einige Kollegen von anderen Zeitungen angerufen. Sie sind neidisch, die Schufte! Sie behaupten, ich hätte eine ganz neue Literaturgattung erfunden!« Der Chef lächelte selbstzufrieden. »Das ist natürlich dein Verdienst! Aber du bist bei uns eine Geheimnummer, deshalb werde ich alles Gute und Schlechte auf meine Kappe nehmen, okay?«
    Viktor nickte, obwohl er sich insgeheim darüber ärgerte, daß er sich nicht im Scheinwerferlicht des Ruhms, und sei es auch nur dem eines Journalisten, sonnen durfte. Der Chef hatte Viktor wohl etwas angesehen.
    »Mach dir nichts draus, irgendwann werden alle den wahren Namen des Autors erfahren, wenn du das willst… Aber im Augenblick ist es besser für dich, einer aus dem Freundeskreis zu sein, den niemand kennt. In wenigen Tagen wirst du verstehen, warum. Vergiß übrigens nicht, alle von mir unterstrichenen Fakten aus den Dossiers zu berücksichtigen, die du von Fjodor bekommst. Keine Angst, ich werde deine philosophischen Erörterungen nicht beschneiden, obwohl sie wirklich in keinem Verhältnis zu den Verstorbenen stehen…«
    Viktor nickte. Er nippte am Kaffee, und der bittere Geschmack erinnerte ihn plötzlich an die Hotelbar in Charkow. An den Morgen, an dem ihn die wilde Schießerei vor dem Aufstehen geweckt hatte.
    »Igor«, begann Viktor, »was ist damals eigentlich in Charkow passiert?«
    Der Chefredakteur schenkte Kognak nach, seufzte und sah Viktor mit einem warnenden, jedes weitere Wort verbietenden Blick an.
    »›Ein junger Soldat, sein Blick plötzlich brach‹, sang er leise, ›und ein Komsomolzenherz war zerschossen…‹ Die Zeitung hat Verluste gehabt. Das ist schon der siebte von uns. Wir können bald einen Heldenfriedhof anlegen… Aber das geht dich nichts an! Je weniger du weißt, desto länger lebst du«, sagte der Chefredakteur. Dann sah er Viktor in die Augen und fügte in ganz anderem, müdem Ton hinzu: »Und auch das bezieht sich nicht auf dich. Du weißt schon mehr als andere… Na gut…«
    Viktor bereute seine Neugier. Die ganze Atmosphäre des kleinen festlichen Tête-à-tête war plötzlich verschwunden.
    18
     
    Ende November verwandelte sich der kalte Herbst in einen ebenso strengen Winter. Die Kinder bewarfen sich mit Schneebällen. Stechend kalte Luft kroch unter die Kragen. Auf den Straßen schlichen die Autos so langsam dahin, als hätten sie Angst voreinander, und die Straßen schienen sich durch die Kälte zu verengen, alles wurde schmäler, kürzer, schrumpfte sozusagen. Nur die Schneehaufen an den Straßenrändern wuchsen und wuchsen dank des unermüdlichen Fleißes und der breiten Schaufeln der Hauswarte.
    Nachdem Viktor einen Punkt unter den zweiten Text des von Mischa-Nicht-Pinguin bestellten ›Kreuzchens‹ gesetzt hatte, schaute er aus dem Fenster. Er hatte weder Lust noch einen triftigen Grund, an diesem Tag aus dem Haus zu gehen. Um die Stille in der Wohnung zu durchbrechen, schaltete Viktor das Radio auf dem Kühlschrank ein. Aus dem Gerät dröhnte das sorglose Lärmen des Parlaments. Viktor stellte den Ton leiser. Dann setzte er Teewasser auf, sah auf die Uhr – es war noch früh am Abend, halb sechs. ›Noch zu früh, um den Tag zu beenden‹, dachte Viktor.
    Er ging ins Zimmer und rief Mischa-Nicht-Pinguin an.
    »Ich bin fertig«, meldete er. »Du kannst

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