Picknick auf dem Eis (German Edition)
Viktor, vorsichtiger zu sein, erst mal nicht in die Redaktion zu kommen und die Wohnung nur zu verlassen, wenn es unbedingt notwendig wäre.
Bestürzt preßte Viktor den Hörer ans Ohr, obwohl seit einer Minute schon das Besetztzeichen zu hören war. ›Was ist denn passiert?‹ dachte er, aber gleichzeitig hallte die völlig ruhige und sichere, fast schulmeisterliche Stimme des Chefs in ihm nach. Viktor zuckte mit den Schultern. Obwohl er den Anruf nicht ernst nahm, zog sich der Vormittag zwei Stunden lang völlig nutzlos dahin. Er rasierte sich ausgiebig, und aus einem unerfindlichen Grund beschloß er, ein Hemd zu bügeln, obwohl er nicht die Absicht hatte, es anzuziehen.
Gegen Mittag verließ er die Wohnung. Er kaufte Zeitungen, ging in einen Feinkostladen, kaufte Fisch für Mischa und für sich selber Wurst und ein Kilo Bananen.
Zu Hause sah er die Zeitungen durch, fand aber keine Erklärung für den Anruf des Chefs. Dafür fielen ihm einige neue Namen auf, die er schnell in sein Arbeitsheft eintrug. Aber er hatte keine Lust zu arbeiten. Er fühlte sich nicht in bester Verfassung, saß schlaff am Küchentisch, auf dem der Beutel mit den Einkäufen lag, und fischte sich eine Banane heraus.
Die Tür quietschte und ging auf. Mischa-Pinguin kam herein, blieb vor seinem Herrchen stehen und sah ihn bittend an.
»Da!« Viktor hielt ihm die angebissene Banane unter den Schnabel.
Der Pinguin beugte sich mit dem ganzen Körper nach vorn und brach mit dem Schnabel ein Stückchen Banane ab.
»Was ist denn mit dir los?« wunderte sich Viktor. »Bist du ein Affe? Paß auf, du wirst dich noch vergiften. Wo soll ich dann einen Arzt für dich finden? Es gibt ja schon für Menschen keine. Komm, ich gebe dir lieber Fisch.«
In der Stille der Küche waren nur das Schmatzen des Pinguins zu hören, der seinen Dorsch verputzte, und Viktors lautes Seufzen, der tief in Gedanken versunken war. Schließlich stand er ächzend auf und machte das Radio an. Als da eine laute Polizeisirene schrillte, dachte er: ›Ein Hörspiel?‹ aber er irrte sich. Es war eine Reportage von einem ›Schlachtfeld‹. Das lag diesmal fast im Zentrum der Stadt, auf der Kreuzung der Straße der Roten Armee und der Saksaganskaja Straße. Viktor drehte den Ton lauter. Eine aufgeregte Stimme berichtete von Blutlachen auf dem Asphalt, von drei Unfallwagen, die erst eine halbe Stunde nach dem Anruf kamen, von sieben Toten und fünf Verletzten. Nach ersten Angaben war der stellvertretende Sportminister, der Abgeordnete Stojanow unter den Toten. Als Viktor den Namen hörte, öffnete er automatisch sein Arbeitsheft und überprüfte die Texte. Der Verstorbene war in seiner Kartei. Viktor klopfte sich selbst auf die Schulter, ließ das Heft offen liegen und wandte sich wieder dem Radio zu. Aber der Reporter zählte nur weiter die schon bekannten Fakten auf. Offensichtlich wußte er noch nicht mehr, versprach jedoch, sich in einer halben Stunde mit neuen Nachrichten zu melden. Eine angenehme Frauenstimme löste ihn mit der Wettervorhersage für das Wochenende ab.
›Morgen ist Sonnabend‹, dachte Viktor und wandte sich dem Pinguin zu.
Seit er zu Hause arbeitete, hatte er das Gefühl für Werk- und Feiertage verloren. Wenn er Lust hatte, arbeitete er, hatte er keine – arbeitete er nicht. Aber meistens hatte er trotz allem Lust, einfach weil nichts anderes zu tun war. Kurzgeschichten zu schreiben oder eine Erzählung oder gar einen Roman anzufangen, wollte ihm nicht gelingen. Er hatte seine Gattung gefunden und war so von deren Bedingungen gefangengenommen, daß er sogar an die ›Kreuzchen‹ denken mußte, wenn er gar keins schrieb. Oder er formulierte seine Gedanken in so feierlichem, getragenen Ton, daß er sie jederzeit als philosophische Abschweifung in einen beliebigen Nekrolog einbauen konnte. Manchmal tat er das auch.
Viktor rief den Revierpolizisten an.
»Leutnant Fischbein!« hörte er die bekannte klare Stimme im Hörer.
»Sergej? Grüß dich, hier ist Witja.«
»Witja?« fragte der Revierpolizist nach. Offensichtlich erkannte er ihn nicht.
»Na, Viktor, der Pinguinbesitzer.«
»Ah, warum hast du das nicht gleich gesagt?« Sergej freute sich. »Was gibt es Neues? Wie geht es Mischa?«
»Prima! Hör mal, hast du morgen frei?«
»Ja«, antwortete Sergej.
»Ich habe eine gute Idee, machst du mit?« fragte Viktor voller Hoffnung. »Wir brauchen nur ein Auto, ein altes Polizeiauto würde reichen…«
»Natürlich, falls du keine kriminelle
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