Picknick auf dem Eis (German Edition)
herkommen.«
Mischa kam nicht allein. Ein kleines Mädchen mit runden neugierigen Augen folgte ihm in die Wohnung.
»Meine Tochter«, sagte Mischa. »Ich konnte sie nicht alleine lassen… Sag Onkel Witja, wie du heißt!« Er beugte sich zu ihr hinunter und begann die Knöpfe des kleinen fuchsroten Pelzes aufzuknöpfen.
»Sonja, ich bin vier Jahre alt«, sagte das Mädchen und sah zu Viktor hoch. »Wohnt hier wirklich ein Pinguin?«
»Na bitte, sie ist noch nicht mal richtig in der Wohnung und schon…« Mischa zog ihr den Pelz aus, half ihr die Stiefel auszuziehen. »Komm jetzt!«
Sie gingen ins Wohnzimmer.
»Und wo ist der Pinguin?« fragte sie wieder und sah sich nach allen Seiten um.
»Warte«, sagte Viktor. »Ich hole ihn gleich.«
Zuerst holte er aus der Küche die beiden frisch geschriebenen Nekrologe, gab sie Mischa-Nicht-Pinguin und ging dann ins Schlafzimmer.
»Mischa!« rief er und guckte hinter das dunkelgrüne Sofa.
Mischa-Pinguin stand auf der dreifach gefalteten alten Samtdecke und starrte regungslos die Wand an.
»Was hast du denn?« fragte Viktor und beugte sich zu dem Pinguin hinab.
Der stand mit offenen Augen da.
›Ob er krank ist?‹ dachte Viktor.
»Was hat er?« fragte Sonja, die lautlos zum Sofa gekommen war.
»Mischa, wir haben Gäste!«
Sonja ging zum Pinguin und streichelte ihn.
»Bist du krank?« fragte sie ihn.
Der Pinguin zuckte zusammen, drehte sich um und sah das Mädchen an.
»Papa!« rief Sonja. »Er hat sich bewegt!«
Viktor ließ Sonja bei dem Pinguin und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Mischa saß im Sessel und las den zweiten Nekrolog zu Ende. Seinem Gesichtsausdruck nach gefielen dem Auftraggeber die Texte.
»In Ordnung!« sagte Mischa-Nicht-Pinguin. »Rührend, wie du schreibst. Man spürt, die Leute sind der letzte Dreck, aber sie tun dir trotzdem leid, wenn du das liest… Was ist, trinken wir einen Tee?«
Sie gingen in die Küche, wo sie sich an den Tisch setzten und sich, bis das Teewasser kochte, über das Wetter und andere unwichtige Dinge unterhielten. Als der Tee fertig war, schob Mischa-Nicht-Pinguin Viktor einen Umschlag über den Tisch.
»Dein Honorar«, sagte er. »Bald kriegst du noch einen Auftrag. Erinnerst du dich an deinen Nachruf auf Sergej Tscherkalin?«
Viktor nickte.
»Er ist erst mal wieder gesund geworden… Ich habe ihm dein Werk gefaxt… Es hat ihm sogar gefallen. Auf jeden Fall war er stark beeindruckt!«
»Papa, Papa«, war aus dem anderen Zimmer die Stimme des Mädchens zu hören. »Er will was essen!«
»Kann dein Pinguin sprechen?« lachte Mischa-Nicht-Pinguin und sah Viktor fragend an.
Viktor nahm ein Stückchen Dorsch aus dem Gefrierschrank und warf es in die Schüssel.
»Sonja, sag ihm, das Essen ist angerichtet!« rief Viktor scherzend.
»Hörst du?« ließ sich die leise Stimme des Mädchens vernehmen. »Sie rufen dich zum Essen.«
Als erster kam der Pinguin in die Küche, nach ihm folgte Sonja. Sie führte ihn zu seiner Schüssel und beobachtete interessiert, wie Mischa-Pinguin fraß.
»Ist er ganz allein?« fragte Sonja plötzlich und hob den Kopf.
»Er ist doch nicht allein«, antwortete Viktor. »Wir leben hier zu zweit…«
»Ich lebe mit Papa auch zu zweit…«, sagte Sonja.
»Plappermäulchen!« seufzte Mischa-Nicht-Pinguin. Er trank einen Schluck Tee, sah dann wieder seine Tochter an. »Mach dich fertig, wir müssen nach Hause.«
Sonja ließ den Kopf hängen und verließ die Küche.
»Ich muß ihr einen kleinen Hund oder eine Katze kaufen…« sagte Mischa-Nicht-Pinguin und blickte ihr nach.
»Bring sie wieder mit, dann kann sie mit dem Pinguin spielen«, schlug Viktor vor.
Der Winterabend draußen war wie von dunkler Tusche übergossen. Die kaum hörbare Stimme aus dem Radio brachte Meldungen über die Ereignisse in Tschetschenien. Viktor setzte sich in der Küche an den Tisch vor die Schreibmaschine. Er fühlte sich einsam, hätte gern eine Erzählung oder ein Märchen geschrieben, wenigstens für Sonja. Aber in seinem Kopf vibrierte die penetrante, traurige Melodie des noch nicht geschriebenen ›Kreuzchens.‹
Dabei dachte er an Sonjas komisches sommersprossiges Gesicht und ihren mit einem Gummi zusammengehaltenen fuchsroten Pferdeschwanz.
›Eine seltsame Zeit für Kinder‹, dachte Viktor. ›Ein seltsames Land, ein seltsames Leben, das man gar nicht wirklich kennen möchte, man möchte bloß überleben, c’est tout…‹
19
Nach einigen Tagen rief der Chefredakteur an und bat
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