Picknick auf dem Eis (German Edition)
Aleksandrowitsch Jakornitzkij schwer verkraftet, den sie während ihres Auftritts auf einer geschlossenen Veranstaltung der Parlamentsabgeordneten, anläßlich der Feier zum Unabhängigkeitstag der Ukraine 1994, im Marienpalast, kennengelernt hatte.« Diese Zeilen waren rot unterstrichen, und Viktor erinnerte sich sofort an sein letztes Gespräch mit Igor Lwowitsch.
Die unterstrichenen Zeilen las er ein paarmal. Sie waren wenig informativ, aber seine Gedanken hatten sich schon auf den nötigen Trauerrhythmus des Textes eingestimmt.
Viktor blätterte das Programmheft durch. Auf der zweiten Seite prangte ein Farbfoto der Solistin. Eine schöne, stattliche Frau mit etwas greller, sicher künstlicher Wangenröte. Mandelförmige Augen, kastanienbraunes Haar, das in gleichmäßigen Wellen über die Schultern fiel.
Viktor konzentrierte sich wieder auf das leere Blatt Papier in der Schreibmaschine.
›Bei den Arabern gilt weiß als die Farbe der Trauer‹, dachte er, als er seine Finger über die Tastatur gleiten ließ.
»Alles Lebendige auf Erden hat seine Stimme. Die Stimme ist ein Ausdruck von Leben, ein Ausdruck von Glück oder Leid. Sie kann sich steigern, abbrechen, abreißen, sich in ein kaum hörbares Flüstern verwandeln. In diesem Chor der menschlichen Musik lassen sich die einzelnen Stimmen schwer auseinanderhalten, aber wenn eine plötzlich verstummt, spürt man ein Gefühl der Endlichkeit jeglichen Klanges, jeglichen Lebens. Die Stimme, die wir jetzt nie mehr hören dürfen, wurde von vielen geliebt… Sie ist unerwartet und allzu früh verstummt. In der Welt ist es stiller geworden, aber das ist nicht die Stille, die derjenige liebt, der Ruhe sucht. Diese Stille ist wie ein schwarzes Loch im Universum und verstärkt die Trauer um die Endlichkeit jeglichen Klanges und die Unendlichkeit vergangener und zukünftiger Verluste…«
Viktor stand auf, brühte sich einen Tee auf und kehrte mit der vollen Tasse an den Tisch zurück.
»Die Stimme von Julija Parchomenko ist verstummt. Aber solange die Wände des Marienpalastes stehen, die Vergoldung der inneren Kuppel die Pracht der Nationaloper reflektiert, bleibt sie unter uns, löst sich im Goldstaub der Luft auf, die wir atmen. Ihre Stimme wird zum Gold der Stille, die sie hinterläßt.«
›Ziemlich viel Gold‹, dachte Viktor, als er innehielt. Er las noch einmal die unterstrichenen Zeilen.
›Wie soll ich denn hier diesen Jakornitzkij unterbringen?‹ dachte er. – ›Liebe? Die Liebe…‹
Er überlegte, trank einen Schluck Tee. Las seinen Text und schrieb weiter.
»Vor kurzem erst erlitt Julija einen schweren Verlust. Die Stimme eines von ihr geliebten Menschen verschwand, verstummte plötzlich, stürzte mit einem Schrei nach unten, ins Unendliche, wohin nach den Gesetzen der Schwerkraft des Todes alles fällt, was überlebt ist, seine Zeit hinter sich oder einfach verspielt hat…«
Hier unterbrach Viktor wieder. Er sah sich das Programmheft noch mal genauer durch, dann huschte ein kaum merkliches Lächeln über sein Gesicht.
»Vor kurzem, als sie die Tosca in Puccinis Oper sang, spielte und sang sie in dieser Rolle ihre eigene Tragödie, besang alles – bis zu ihrem Sprung von der Festung. Es ist unwichtig, wie sie in der Realität gestorben ist. Auch wenn sie anders gestorben ist: Wir haben eine schwere Aufgabe zu bewältigen – uns an die Stille, die ihre Stimme hinterlassen hat, zu gewöhnen und in dieser Stille die goldenen Staubkörner ihrer Anwesenheit zu finden. Wir können nur gemeinsam schweigen, um in der aufkommenden Stille ihre Stimme besser zu hören, uns an sie zu erinnern und sie lange in unserem Gedächtnis zu bewahren, bis zu dem Zeitpunkt, wo auch unsere Stimmen sich mit der Stille und der Ewigkeit vermischen…«
Viktor richtete sich auf, holte tief Atem, als habe er nicht Buchstaben und Worte auf der Schreibmaschine getippt, sondern einen Hundertmeterlauf hinter sich. Er rieb sich mit den Fingern die Schläfen, um die Anspannung wegzuwischen, in die ihn dieser eilige nächtliche Auftrag getrieben hatte. Aber er hatte es geschafft.
Er las den Text noch einmal durch, und die Opernsängerin, die gestorben oder sonstwie umgekommen war, tat ihm selber leid.
Unten wartete das Auto.
Viktor stand auf, drehte sich um und erstarrte: Auf der Türschwelle stand unbeweglich der Pinguin und blickte ihn aufmerksam an. Nur seine Augen glitzerten lebendig, ohne aber seine Wünsche zu verraten. Er folgte einfach seinem Herrchen.
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