Picknick auf dem Eis (German Edition)
nur rausgekommen?« wunderte sich Sergej.
Der Pinguin blieb am Rand der Decke stehen.
»Vielleicht braucht er auch einen Kognak?« scherzte Sergej.
»Nun komm schon, komm her, Mischa!« rief Viktor und klopfte mit der Hand auf die Decke. Mischa watschelte tolpatschig auf die Decke, sah Sergej an, dann sein Herrchen.
Sergej griff wieder in den Rucksack, zog ein Handtuch heraus und wickelte den Pinguin ein.
»Damit er sich nicht erkältet«, erklärte er Viktor.
Der Pinguin stand so eingewickelt fünf Minuten lang still da, dann schüttelte er das Handtuch ab.
Viktor hörte Schritte hinter sich und drehte sich um.
Vor ihm stand der Angler, der ›Besitzer‹ des nächstgelegenen Eislochs.
»Was ist? Er beißt doch nicht«, sagte Sergej.
Der Angler schüttelte den Kopf, ohne den Blick vom Pinguin zu wenden.
»Hören Sie«, sagte er schließlich. »Haben Sie hier einen Pinguin oder sehe ich schon weiße Mäuse?«
»Sie sehen weiße Mäuse«, versicherte ihm Sergej mit absolut aufrichtiger Stimme.
»O Gott!« stieß der Fischer erschrocken aus.
Er wedelte hilflos mit den Händen, machte auf dem Absatz kehrt und lief wieder zu seinem Eisloch.
Viktor und Sergej sahen ihm nach.
»Vielleicht trinkt er jetzt weniger«, meinte Sergej.
»Hör mal, du bist hier nicht im Dienst!« sagte Viktor vorwurfsvoll. »Warum erschreckst du den Säufer!«
»Berufskrankheit«, rechtfertigte sich Sergej lächelnd. »Willst du was essen? Oder noch ein Gläschen Kognak?«
»Noch einen Kognak!« nickte Viktor.
Der Pinguin trippelte ungeduldig von einem Bein aufs andere und klopfte sich mit seinen kurzen Schwimmflügeln auf die Seiten.
»Was will er, muß er mal?« lachte Sergej, während er die Kognakflasche aufschraubte.
Mischa hatte inzwischen die Decke verlassen und stürzte sich mit einem komischen Anlauf wieder in das Eisloch.
21
In der Nacht von Sonntag auf Montag weckte Viktor ein hartnäckiges Telefonklingeln. Obwohl er schließlich endgültig wach war, hatte er trotzdem keine Lust aufzustehen, er lag da und wartete, daß der Anrufer die Geduld verlieren würde. Aber der verlor sie nicht. Sogar der Pinguin war aufgewacht und schnatterte.
Viktor stand schließlich auf und ging schwankend zum ununterbrochen läutenden Telefon.
›Was für idiotische Scherze!‹ dachte er und griff zum Hörer.
»Hallo, Witja?« ertönte die Stimme des Chefs. »Entschuldige, daß ich dich geweckt habe! Eine ganz eilige Sache! Hörst du?«
»Ja.«
»Gleich kommt ein Bote mit einem Umschlag zu dir. Er wird vor dem Haus im Wagen auf dich warten. Versuch, so schnell wie möglich ein ›Kreuzchen‹ zu schreiben. Es soll noch in der Morgenausgabe erscheinen.«
Viktor sah auf seinen Wecker auf dem Hocker. Halb zwei.
»Okay«, sagte er.
Er zog sich seinen blauen Morgenmantel über, ging ins Badezimmer, wusch sich mit kaltem Wasser, setzte in der Küche Teewasser auf und stellte die Schreibmaschine auf den Tisch. Er blickte auf das Haus gegenüber; im ganzen Haus waren nur noch zwei Fenster erleuchtet.
Die Schlaflosigkeit anderer beunruhigte Viktor nicht. Er war jetzt ganz wach, spürte nur noch eine leichte Benommenheit im Kopf.
In der nächtlichen Stille hörte man ein Auto vorfahren. Eine Tür schlug zu.
Viktor saß geduldig da und wartete darauf, daß es an der Wohnungstür klingelte. Statt dessen hörte er ein vorsichtiges Klopfen.
Ein Mann von etwa fünfzig Jahren, mit verschlafenem Gesicht und geröteten Augen überreichte ihm einen großen braunen Umschlag.
»Ich bin unten im Auto. Sollte ich einschlafen, klopfen Sie an die Scheibe«, sagte er, ohne auch nur den Flur zu betreten.
Viktor nickte.
Er setzte sich vor die Schreibmaschine, öffnete den Umschlag und zog ein Blatt Papier und ein Theaterprogramm heraus.
»Parchomenko, Julija Andrejewna, 1955 geboren, seit 1988 Solistin an der Nationaloper. Verheiratet, zwei Kinder« las Viktor einen maschinengeschriebenen Text. »1991 eine Brustoperation. 1993 wurde sie als Zeugin vor Gericht geladen; es wurde vermutet, daß sie mit dem plötzlichen, nie aufgeklärten Verschwinden der Sängerin der Nationaloper, Sanutschenko, Irina Fedorowna, zu der sie in offen feindseligem Verhältnis stand, etwas zu tun hatte. 1995 weigerte sie sich, an einem Gastspiel in Italien teilzunehmen. Dadurch wäre das geplante Gastspiel fast geplatzt.«
Dann war handschriftlich hinzugeschrieben: »Hat den Verlust ihres nahen Freundes, des Schriftstellers und Parlamentsabgeordneten Nikolaj
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