Picknick auf dem Eis (German Edition)
Unvoreingenommen und ohne besonderen Grund.
Seufzend zwängte sich Viktor zwischen Tür und Pinguin hindurch auf den Flur, zog seine Winterjacke über den Schlafrock und lief mit dem Text hinunter.
Der Bote schlief mit dem Kopf auf dem Steuer. Viktor klopfte an die Scheibe. Der Mann rieb sich die Augen. Ohne ein Wort zu sagen, öffnete er die Wagentür, nahm das Blatt Papier in Empfang, ließ den Wagen an und fuhr los.
Viktor kehrte in seine Wohnung zurück. Die Nacht war im Eimer. Er verspürte keinerlei Lust zu schlafen, sein Körper war jetzt unnötigerweise ganz wach.
In seiner Hausapotheke fand er ein Schlafmittel, schluckte zwei Tabletten, trank einen Schluck warmes Wasser nach und ging ins Schlafzimmer.
22
Am nächsten Morgen um zehn Uhr rief der Chef wieder an. Er war mit dem Nachruf sehr zufrieden und entschuldigte sich noch einmal für die nächtliche Störung. In einigen Tagen könne Viktor auch sicher wieder in die Redaktion kommen, dürfe aber auf keinen Fall seinen Presseausweis zu Hause vergessen, da die Miliz jetzt am Eingang und auf allen Stockwerken kontrolliere.
Draußen herrschte weiter eisiges Winterwetter. Es war ziemlich still.
Mit dem Teekessel vor dem Herd stehend überlegte Viktor, was er mit dem neuen Tag anfangen sollte. Einerseits könnte er sich nach der Nachtarbeit einen freien Tag gönnen. Aber einen freien Tag müßte man noch interessanter gestalten als einen gewöhnlichen. Deshalb beschloß Viktor nach dem Kaffee, Zeitungen am Kiosk zu holen und danach zu entscheiden, was er unternehmen würde.
Die zweite Tasse Kaffee trank er schon während der Zeitungslektüre. Zuerst las er das Resultat seiner nächtlichen Bemühungen, das in einer Auflage von einer halben Million auf der vorletzten Seite abgedruckt war. Sie hatten Wort für Wort alles gedruckt; der Redakteur hatte den Text nicht angerührt. Vielleicht war es aber auch so, daß der Redakteur die Nacht durchgeschlafen hatte, während der Text schon zum Setzen in der Druckerei war. Auf der ersten Seite seiner Zeitung las Viktor einen langen Leitartikel: »Der Krieg ist noch nicht zu Ende, es herrscht nur Waffenstillstand.« Fotos, die an die Zeit des Sturms auf Grosnyj erinnerten, und Textspalten, die wie Militärkolonnen angeordnet waren, füllten abwechselnd die Seite. Viktor begann, mechanisch zu lesen, und je länger er las, desto faszinierter war er. Es stellte sich heraus, daß in Kiew, während Viktor ein normales Leben geführt hatte, schlachtenähnliche Machtkämpfe zwischen »zwei Mafia-Clans« stattgefunden hatten. Wenigstens wurde das im Artikel behauptet. Siebzehn Tote, neun Verletzte, fünf Explosionen. Unter den Toten war auch der Chauffeur des Chefredakteurs, drei Polizisten, ein arabischer Geschäftsmann, einige Männer, die nicht identifiziert werden konnten, und die Solistin der Nationaloper.
Als Viktor die anderen Zeitungen durchblätterte, bemerkte er, daß dort dem Mafia-Krieg entschieden weniger Platz eingeräumt wurde als in den ›Hauptstadtnachrichten‹. Dafür war mehr über den Tod der Opernsolistin zu erfahren. Ihr Körper war am frühen Morgen auf der Talstation der Drahtseilbahn gefunden worden. Sie war mit einem Lederriemen erwürgt worden. Außerdem war ihr Mann, der Architekt, spurlos verschwunden und die Wohnung der beiden völlig auf den Kopf gestellt. Offensichtlich hatte jemand etwas gesucht.
Viktor überlegte. Der Tod der Solistin schien nichts mit dem Krieg der Clans zu tun zu haben. Ein völlig ›abseitiges‹ Verbrechen. ›Vielleicht hat der verschwundene Ehemann seine Hand im Spiel?‹ dachte Viktor. ›Vielleicht habe ich selber dazu beigetragen?‹ Seine eigenen Gedanken erschreckten ihn plötzlich. ›Ich habe ja in meinem Nekrolog auf Jakornitzkij über sie geschrieben. Natürlich ohne Namen, aber für viele war das sicher mehr als eine deutliche Anspielung… Und vielleicht war das für ihren Mann sozusagen der letzte Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte?‹
Viktor seufzte tief. Einen Moment lang fühlte er sich schrecklich erschöpft. Sein Verdacht quälte ihn.
»Unsinn!« flüsterte er. »Warum sollte der Ehemann eine Durchsuchung seiner eigenen Wohnung veranlassen?«
23
Der Tag ging zu Ende und war merkwürdigerweise ziemlich produktiv gewesen. Auf dem Tisch lagen drei fertige Nachrufe. Hinter dem Fenster war es winterlich dunkel, auf dem Tisch dampfte eine frische Tasse Tee.
Viktor überflog die Zeilen der neuen Texte. Die Nekrologe waren ein
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