Picknick auf dem Eis (German Edition)
Pinguinologen, der ihn aber nicht bemerkte.
»Guten Tag«, sagte Viktor.
Pidpalyj wandte ihm den Kopf zu und sah den Besucher an. Ein schwaches Lächeln huschte über seine bleichen Lippen.
»Guten Tag…«, hauchte er.
»Wie geht es?« fragte Viktor. »Was macht die Behandlung?«
Statt einer Antwort lächelte der Alte nur.
»Ich habe nichts mitgebracht…«, gestand Viktor schuldbewußt, als er auf dem Nachttisch des Nachbarn zwei Apfelsinen entdeckte. »Ich habe nicht daran gedacht…«
»Macht nichts… Gut, daß du gekommen bist…« Der Alte zog seine Hand unter seiner Decke hervor, die aussah, als wäre sie aus einem Militärmantel gemacht, und fuhr mit den Fingern über sein schlaffes bartstoppeliges Gesicht. »Weißt du, der Friseur kommt hier einmal in der Woche… freitags. Und er wird nur für zwei Stunden bezahlt. Bis zu mir kommt er nie…«
»Wollen Sie sich die Haare schneiden lassen?« wunderte sich Viktor und betrachtete Pidpalyjs spärliche Haare.
»Nein, rasieren«, sagte der Alte, der weiter über seine spärlichen Stoppeln strich. »Mein früherer Nachbar« – der Alte zeigte auf das rechte Bett – »hat mir sein Rasierzeug geschenkt. Eine ganze Garnitur. Da ist auch ein Pinsel… Aber alleine kann ich mich nicht rasieren…«
»Soll ich Sie rasieren?« bot Viktor vorsichtig an.
»Ja bitte!«
Viktor nahm aus Pidpalyjs Nachttisch das Rasiermesser, den Pinsel und einen anscheinend auch dazugehörigen breiten Plastikbecher.
»Gleich, ich hole nur Wasser«, sagte Viktor im Aufstehen.
Zweimal lief er den ganzen Korridor auf der Suche nach einer Schwester oder eines Arztes rauf und runter, aber es war niemand zu sehen. Er fand eine Toilette, aber aus dem Hahn floß nur kaltes Wasser. Schließlich fragte er einen der Patienten, und der schickte ihn einen Stock tiefer in die Küche. Eine alte Frau in einem grauen Kittel kramte ein Halbliterglas hervor und goß ihm aus einem Boiler heißes Wasser ein.
Zum Rasieren brauchte er nicht weniger als eine Stunde. Die Klinge war stumpf und der Griff alt. Auf den Wangen des Alten entstanden Schnittwunden, aber sie bluteten nicht. Als er endlich mit Rasieren fertig war, borgte er beim Bettnachbarn Eau de Cologne, spritzte sich etwas auf die Handfläche und rieb damit die Wangen des Alten ein. Pidpalyj stöhnte.
»Entschuldigung«, sagte Viktor automatisch.
»Macht nichts, macht nichts«, krächzte der Alte. »Es tut weh. Also lebe ich noch.«
»Und was sagt der Arzt?« fragte Viktor.
»Der Arzt sagt, daß ich noch drei Monate leben kann, wenn ich ihm meine Wohnung vermache…«, sagte der Alte und lächelte wieder. »Aber wozu brauche ich drei Monate? Ich habe keine unerledigten Geschäfte…«
Viktor schüttelte sich, als ob er aus dem Schlaf gerissen würde. Plötzlich packte ihn eine rasende Wut. Die Finger seiner rechten Hand ballten sich wie von selbst zur Faust.
»Wieso, geben die Ihnen keine Medikamente?« fragte er.
»Es gibt keine. Wenn man selber welche mitbringt, kriegt man die auch. Aber für die anderen heißt die Medizin: im Bett bleiben und schlafen.«
Viktor schwieg, versuchte, seine Wut zu unterdrücken, da er ja wußte, daß er hier mit Wut nichts ausrichten würde.
»Und was hat der Arzt für die Wohnung versprochen? Medikamente?« fragte Viktor etwas ruhiger.
»Irgendwelche amerikanischen Spritzen…« Der Alte fuhr über sein rasiertes Gesicht. »Weißt du, ich wollte dich um etwas bitten…« Er wälzte sich mühevoll auf die Seite, auf der Viktor saß.
»Komm näher!«
Viktor beugte sich zu ihm hinunter.
»Du hast doch noch die Schlüssel von meiner Wohnung?« flüsterte Pidpalyj.
»Ja«, antwortete Viktor ebenfalls flüsternd.
»Wenn ich gestorben bin, zünde auf jeden Fall meine Wohnung an«, flüsterte der Alte. »Ich bitte dich inständig! Ich möchte nicht, daß jemand auf meinem Stuhl sitzt, in meinen Papieren wühlt und dann alles in den Müll wirft. Verstehst du? Das sind meine Sachen… Ich habe mit ihnen gelebt und will sie nicht hier lassen… Verstehst du?«
Viktor nickte.
»Versprich mir, daß du alles verbrennst, wenn ich tot bin!« Der Alte sah Viktor flehend an.
»Ich verspreche es«, flüsterte Viktor.
»Dann ist alles gut.« Ein Lächeln lag auf den blutleeren Lippen des Alten. »Habe ich dir erzählt, daß ich goldene Jahre erwischt habe?«
Pidpalyj wälzte sich wieder auf den Rücken. Er seufzte tief. »Geh! Geh schon!« wisperte er. »Danke, daß du mich rasiert hast! Sonst liegt man
Weitere Kostenlose Bücher