Picknick auf dem Eis (German Edition)
hier unrasiert rum wie ein Toter!« und er zeigte auf den nächsten Schirm.
»Wer ist da, ein Toter?« fragte Viktor flüsternd, dem ein Schauder über den Rücken lief.
»Wenn sie dich mit einem Schirm abdecken, geht es am nächsten Tag ins Leichenschauhaus!« flüsterte der Alte. »Nun geh, geh schon!«
Viktor erhob sich, stand noch eine Minute bei Pidpalyj. Aber der Alte sah ihn nicht mehr an – er starrte an die Decke, und seine schmalen Lippen bewegten sich, als murmelten sie geheime Worte, die außer ihm niemand hören sollte.
45
Der nächste Tag begann wie gewöhnlich. Die Sonne schien durchs Fenster. Viktor und Sonja frühstückten in der Küche, es gab Rührei und Tee. Der Pinguin hatte seit dem frühen Morgen schlechte Laune, und so sehr sie ihn auch baten, er kam nicht in die Küche.
Sonja guckte ungeduldig auf den Wecker auf dem Fensterbrett, als wollte sie den Minutenzeiger mit den Augen verschlingen.
Zwanzig vor zehn klingelte es an der Haustür, Sonja sprang so stürmisch auf, daß sie dabei fast den Hocker umstieß, auf dem sie saß.
Nina war gekommen. Vom Flur hörte man ihre freudige Begrüßung. Dann kam Nina, ohne den Mantel abzulegen, in die Küche und begrüßte Viktor.
»Wohin geht es heute?« fragte Viktor.
»Nach Syrez«, sagte Nina. »Wir gehen im Wald spazieren, dann fahren wir zu mir nach Podol und essen da zu Mittag…«
»Seid vorsichtig, draußen ist Glatteis«, warnte Viktor. »Ich bin gestern mehrere Male hingefallen.«
»Klar«, nickte Nina brav und zeigte ein halbes Lächeln in dem Bemühen, ihre Zähne zu verstecken.
»Und wo ist deine Jacke?« hörte er auf dem Flur die neckende Stimme von Nina, die Sonja anzog. »Und jetzt die Schühchen…«
Nach fünf Minuten schaute Nina nochmal in die Küche herein.
»Wir gehen jetzt los«, sagte sie und zeigte wieder ihr halbes Lächeln.
Die Tür fiel ins Schloß. In der Wohnung wurde es still bis auf ein Geräusch im Wohnzimmer. Die Tür ging knarrend auf, und Mischa-Pinguin guckte auf den Flur, als ob er sich vergewissern wollte, daß niemand mehr da war. Dann stieß er die Küchentür auf. Von der Schwelle aus sah er seinen Herrn an, watschelte zu ihm und schmiegte seine weiße Brust an dessen Knie. Viktor streichelte ihn.
Nachdem er einige Minuten neben seinem Herrchen gestanden hatte, wandte er sich seiner Schüssel zu und drehte sich um. Viktor nahm aus dem Gefrierfach zwei Schollen, schnitt sie in kleine Teile und legte sie vor den Pinguin. Dann goß er sich Tee nach und kehrte an seinen Platz zurück.
Die relative Stille, in der nur der frühstückende Pinguin zu hören war, erinnerte Viktor an die Zeit, als sie hier nur zu zweit lebten, er und der Pinguin, ruhig und schweigsam, ohne besondere Zuneigung, aber mit dem Gefühl der gegenseitigen Abhängigkeit, die zwischen ihnen eine fast verwandtschaftliche Nähe schuf, wie eine Fürsorge ohne Liebe. Verwandte liebt man nicht unbedingt, man kümmert sich um sie, macht sich Sorgen, aber besondere Gefühle oder Emotionen sind dabei eher zweitrangig und nicht unbedingt erforderlich. Hauptsache, es geht ihnen gut…
Nachdem der Pinguin schnell sein Frühstück verschlungen hatte, kam er wieder auf Viktor zu. Dem schien das zärtliche Gebaren seines Zöglings ungewöhnlich. Er streichelte ihn und spürte, wie der Pinguin seinen Körper noch stärker an sein Bein schmiegte.
›Geht es dir nicht gut?‹ fragte Viktor Mischa in Gedanken.
›Ja‹, dachte Viktor. ›Wir haben dich vernachlässigt… Entschuldige. Sonja hat dich erst gegen den Fernseher eingetauscht und dann gegen Nina. Aber ich habe gedacht, daß sie trotzdem mit dir spielt… Entschuldige…‹
Da er den sich an sein Bein schmiegenden Pinguin nicht aufscheuchen wollte, saß er noch zwanzig Minuten am Küchentisch und dachte über die jüngste Vergangenheit und die Zukunft nach. Sein Leben kam ihm ruhig und normal vor, trotz der aufgetauchten Gefahren, die er Neujahr in dem Häuschen überstanden hatte. Alles war in Ordnung, oder es schien ihm wenigstens so. Jede Zeit ist auf ihre Weise ›normal‹. Was früher etwas Schreckliches gewesen war, war jetzt zur Alltäglichkeit geworden. Das heißt, die Leute nahmen es als Norm an, um sich nicht überflüssigerweise aufzuregen, und lebten eben einfach weiter. Denn für sie genau wie für Viktor war und blieb die Hauptsache zu leben, um jeden Preis weiterzuleben.
Draußen hielt das Tauwetter an.
Ungefähr um zwei Uhr mittags klingelte es an der Haustür.
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