Picknick auf dem Eis (German Edition)
zurück. In dem oberen Fach sah er einen Aktendeckel, auf dem kleine einzelne Zettel mit gedruckten Texten lagen. Mechanisch streckte er die Hand aus, griff nach dem obersten Blatt und erkannte sofort eins seiner letzten ›Kreuzchen‹ für den Direktor der Fabrik ›Armatura‹. In der oberen linken Ecke stand ein Datum: »Genehmigt. Für den 14. 2. 96.« Eine schwungvolle Unterschrift. Viktor starrte auf dieses Datum. Irgendwas daran wunderte ihn maßlos, und diese Verwunderung befreite ihn allmählich von seinem Zittern und seiner Angst. ›Heute haben wir doch erst den 3.Februar…‹ dachte Viktor. Er sah sich die anderen Blätter an: alles seine Nachrufe, und alle waren mit einem zukünftigen Datum versehen. Vorsichtig nahm er den Aktendeckel mit den Zetteln aus dem oberen Fach. Auch darin waren lauter ›Kreuzchen‹. Oben lagen die neueren, alle mit einem Datum versehen, auf einem stand: 3. 2. 96. Und darunter die gleiche schwungvolle Unterschrift. ›Heute?‹ dachte Viktor, der jetzt aufs Geratewohl einige Seiten aus der Mitte herauszog. Auf einem der ›Kreuzchen‹ mit einem schon abgelaufenen Datum stand in einer anderen Handschrift »erledigt«.
In Viktors Kopf herrschte völliges Chaos. Er starrte auf die braune Mappe, auf alle diese Texte, auf den offenen Safe und spürte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Sein Blick fiel auf irgendwelche Papiere, die auf dem Schreibtisch lagen. Viktor nahm einen nicht abgeschickten Brief an die Zeitungsdruckerei in die Hand. Alles, außer der Unterschrift, war auf Computer geschrieben. Viktor hielt sich das Blatt näher unter die Augen und betrachtete die Unterschrift genau. Nein, es war nicht der Chef, der das jeweilige Datum auf die ›Kreuzchen‹ geschrieben hatte. Die Unterschrift des Chefs war entschieden einfacher. Im Gegensatz zu der schwungvollen Schrift konnte man seinen Namen einfach entziffern. Trotzdem kam ihm an der Handschrift des Chefs etwas bekannt vor, und als er sich noch einmal den alten Nekrolog aus der Mitte der Akte ansah, entdeckte er genau dieselben unsicheren, gleichsam vor Kälte zitternden Schriftzüge, mit denen das »erledigt« geschrieben war.
Plötzlich klingelte das Telefon auf dem Schreibtisch, und Viktor zuckte zusammen, als hätte man ihn auf frischer Tat ertappt. Er starrte auf das Telefon, das ununterbrochen klingelte. Und wieder bekam er schreckliche Angst. Er sah sich nach allen Seiten um, als wollte er sich vergewissern, daß ihn niemand verfolgte. Plötzlich fiel sein Blick auf die Linse einer Videokamera, die direkt über der Tür angebracht und von der Decke aus auf ihn gerichtet war.
Viktor packte eilig die Nekrologe in den Aktendeckel, den er in den Safe zurücklegte, oben drauf die anderen ›Kreuzchen‹. Den Safe schloß er ab und sah wieder in die Videokamera. Das Telefon schwieg, aber die jetzt herrschende Stille im Büro erschreckte Viktor nicht weniger. Er stand vorsichtig auf, bemüht, die Stille nicht zu verletzen, nahm die Mappe und verließ das Büro.
Die Sekretärin drehte sich zu ihm um, sie saß vor ihrem Computer. Auf dem Monitor erstarrte eine Verfolgungsjagd, ein Computerspiel.
»Schon fertig?« fragte sie und maß ihn mit einem angespannten Blick.
»Ja«, brachte Viktor gepreßt heraus. »Auf Wiedersehen…«
46
Ohne sich nach rechts oder links umzusehen, ohne die Stadt überhaupt wahrzunehmen, kehrte er nach Hause zurück. Seine Hand umklammerte krampfhaft die Mappe, die Füße fanden den Weg von selbst.
Als er vor seiner Wohnungstür stand, ging Viktor auf, daß ihn unten ein auf der Bank vor dem Hauseingang sitzender junger Mann in Trainingsanzug und Skimütze unablässig angestarrt hatte.
Bevor er seine Wohnung betrat, horchte er hinunter. Unten war alles ruhig. Viktor schloß sorgfältig hinter sich ab.
»Nun, was ist?« Der Chef empfing ihn im Flur.
Dann sah er seine Mappe, lächelte, griff sie sich und verschwand in der Küche.
Als Viktor, nachdem er sich die Jacke ausgezogen hatte, ebenfalls in der Küche erschien, hatte Igor Lwowitsch schon den Inhalt der Mappe auf dem Tisch sortiert. Da lagen ein grüner Diplomatenpaß mit dem eingestanzten Dreizack, neben dem Paß zwei Kreditkarten, ein Sparbuch, Rechnungen.
»Beim Hauseingang sitzt so ein junger Typ…« verkündete Viktor, der vor dem Tisch stehengeblieben war.
»Ich weiß.« Der Chef nickte, ohne hochzusehen. »Das ist einer von uns… Hast du was zu essen da? Ich sterbe vor Hunger…«
Viktor sah den
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