Picknick auf dem Eis (German Edition)
wieder! Die Toten muß man ehren! Das schicken dir die Angehörigen, den Wodka trink auf Alexander Safronow! Bis bald, Ljoscha.«
»Von wem?« fragte Nina.
Viktor gab ihr den Zettel. Sie las ihn und starrte Viktor ungläubig an.
»Was hast du denn Schlimmes gemacht?«
»Ich bin gestern nicht zur Trauerfeier gegangen…«
»Du hättest hingehen sollen«, meinte Nina leise.
Viktor warf ihr einen gereizten Blick zu und verließ die Küche. In seiner Jackentasche fand er Ljoschas Visitenkarte und wählte dessen Nummer.
Lange nahm niemand den Hörer ab.
»Hallo…«, war schließlich eine heisere verschlafene Stimme zu vernehmen.
»Ist da Ljoscha?« fragte Viktor kühl.
»Ja…«, murmelte Ljoscha, der offensichtlich auf der Trauerfeier des Guten zu viel getrunken hatte.
»Hier ist Witja. Was sind das für Zaubertricks?«
»Wieso Zaubertricks?… Witja, bist du das oder nicht? Wie geht’s denn dem Tierchen?«
»Hör zu, ich will wissen, wie die Tüte auf meinen Küchentisch gekommen ist!« sagte Viktor gereizt.
»Wie? Na, die Angehörigen des Toten haben darum gebeten… Und was beunruhigt dich daran?«
»Mich beunruhigt, wie diese Tüte durch meine verschlossene Tür gekommen ist!« Viktor schrie fast in den Hörer.
»Beruhige dich! Ich höre dich, aber ich habe Kopfschmerzen… Was fragst du da? Durch die verschlossene Tür? Aber wo gibt es denn Türen, die absolut verschlossen sind! Du bist doch kein Grünschnabel, oder?… Trink auf Safronow… Ich muß auch gleich einen gegen den Kater schlucken, aber ich will noch ein bißchen schlafen. Warum zum Teufel hast du mich geweckt?…«
Und Ljoscha hatte aufgelegt.
Viktor schüttelte den Kopf. Es war bitter, sich seine Ohnmacht, seine Hilflosigkeit einzugestehen.
»Witja!« rief ihn Nina aus der Küche.
Als er hereinkam, hatte Nina schon den Tisch gedeckt. Neben den zwei Tellern standen Gläschen.
»Setz dich, warum sollen die guten Sachen verderben?! Laß sie uns essen, solange sie frisch sind…«, sagte sie, und rief in den Flur »Sonja! Komm essen!«
»Wir müssen auf seinen Seelenfrieden trinken, sonst passiert was Schlimmes…«, sagte sie, wandte sich dem immer noch vor dem Tisch stehenden Viktor zu und gab ihm die Flasche Smirnoff.
Er öffnete sie.
Sonja kam mit einem Blatt Papier herein.
»Guckt mal, was ich gemalt habe!« Sie hielt Nina das Bild hin.
Nina nahm es und legte es auf den Eisschrank.
»Erst wird gegessen, dann gucken wir uns das Bild an!« sagte sie lehrerinnenhaft.
60
Einen Tag später saß Viktor, der per Boten eine neue Aktenmappe mit Dossiers bekommen hatte, an der Schreibmaschine. Durch das Fenster schien die Frühlingssonne, und obwohl es draußen noch kühl war, wärmte sie hier in der Küche mit ihren hellen Strahlen den ganzen Raum. Die Arbeit und die lange ersehnte Sonnenwärme lenkten Viktor von den Sorgen der letzten Tage ab. Und obwohl die Ereignisse quasi noch neben ihm standen, gelang es Viktor bei seiner Arbeit, philosophische Gedanken mit den rot unterstrichenen Fakten zu verbinden, und er vergaß seine Verbitterung, alle diese Vorfälle, die ihm seine Hilflosigkeit bewußt gemacht hatten.
Während einer seiner Kaffeepausen erheiterte ihn plötzlich eine Erinnerung: Ihm fiel ein, daß er vor einiger Zeit einen Nachruf für einen Menschen namens Safronow geschrieben hatte. Aber er hatte völlig vergessen, wer dieser Safronow gewesen war und welche seiner Heldentaten rot unterstrichen gewesen waren. Aber Viktor war davon überzeugt, daß es genau dieser Safronow war, den er zusammen mit Mischa vor einigen Tagen beerdigt hatte. Er war zwar nicht hundertprozentig sicher, doch die Tatsache, daß dieser Tote offensichtlich eines Nekrologs würdig war, bestätigte indirekt die Richtigkeit seiner Annahme.
Bei dem Gedanken, daß er selber in der Rolle des ›Kontrolleurs‹ aufgetreten war, zunächst als Autor des Nekrologs und dann als Zeuge auf der Beerdigung, wo er nachprüfen konnte, ob sie ihn auch wirklich begraben hatten, mußte er sogar lächeln.
Nina war mit Sonja an den Dnjepr gefahren, und nichts hinderte Viktor daran, zu arbeiten. An diesem Tag fiel es ihm leicht. Er las die geschriebenen Sätze durch, und zufrieden mit sich selber, improvisierte er weiter über das Thema eines fremden Todes.
Als er vier Nekrologe fertig hatte, blinzelte er durchs Fenster in die Sonne, stellte den Teekessel auf und lief durch die Wohnung. Er hockte sich neben Mischa hin, der vor der Balkontür stand, als
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