Picknick auf dem Eis (German Edition)
hoffte er, einen Luftzug zu erwischen.
»Was ist, geht’s uns gut?« fragte er den Pinguin und sah ihm in die Äuglein.
»Gut geht’s uns, gut!« erwiderte er, ohne eine Antwort abzuwarten, und erhob sich.
An der Wand entdeckte er zwei Bilder in Glasrahmen. Das erste war das Portrait des Pinguins Mischa, das er schon kannte. Das zweite stellte ein Gruppenportrait dar: drei Menschen und ein kleiner Pinguin. ›Onkel Witja, ich, Nina und Mischa‹ war mit ungelenken Buchstaben darunter geschrieben, und dann hatte offensichtlich Nina den ›Onkel‹ in ›Papa‹ und ›Nina‹ in ›Mama‹ verbessert. Nina hatte eine deutliche, lehrerinnenhafte Handschrift. Auch die Unterschrift am Rand des Bildes war deutlich von der ›Lehrerin‹ verbessert, es fehlte nur noch die Zensur. Wahrscheinlich wäre es eine ›zwei‹ gewesen, wegen der beiden korrigierten Fehler.
Viktor erstarrte vor dem Bild. Aus irgendeinem Grund gefielen ihm Ninas Korrekturen nicht. Als würde mit diesen Worten die Situation fast vergewaltigt. Das Bild hing ziemlich hoch, und Sonja konnte es nur betrachten, wenn sie auf einen Stuhl stieg. Also hatte Nina diese Korrekturen für sich und für ihn gemacht.
Anscheinend spielte Nina ebenfalls Familie. Vielleicht so wie Viktor. Die Illusion eines Ganzen. Nur Sonja zerstörte diese Illusion jeden Tag leichthin und unabsichtlich, als ob sie die Worte Papa und Mama gar nicht kennen würde oder sie zwar kannte, aber keinen Grund sah, sie anzuwenden.
Sie war der Realität näher: zu klein, um sich eine komplizierte Welt auszudenken, und zu naiv, um die Gedanken und Gefühle zweier Erwachsener zu erraten.
›Na schön‹, grummelte Viktor beim Gedanken an Nina. ›Möchtest du denn kein eigenes Kind? Dann würde dich jemand bis an dein Lebensende Mama nennen! So schwierig ist das doch nicht…‹
Dann dachte er: ›Und wie ist es mit mir? Hätte ich es gern, wenn jemand Papa zu mir sagen würde?‹ Im Prinzip hätte er nichts dagegen. Geld war vorhanden, er hatte eine Arbeit, alles war da. Sogar eine junge attraktive Frau, die Mutter werden konnte… Keine Liebe, aber das war nicht die Hauptsache. Vielleicht war Liebe auch erlernbar? Vielleicht mußte man nur aufs Land ziehen, ein großes einstöckiges Haus mit allem Komfort kaufen, und die Liebe würde sofort wie eine Kerze aufflammen? Er schüttelte den Kopf, als wolle er die dummen Gedanken daraus verjagen.
61
Der März erwärmte die Erde. Die Sonne erschien wie eine gewissenhafte Hauswartsfrau jeden Morgen am Himmel und schien mit aller Kraft.
Viktor hatte die nächste Mappe mit Nekrologen erledigt. In den Pausen kochte er sich Kaffee und ging mit seiner Tasse auf den Balkon. Manchmal begleitete ihn Mischa, dem die Sonnenstrahlen anscheinend auch Vergnügen bereiteten.
Nach fünf Minuten Kaffeepause kehrte Viktor an den Küchentisch zurück. Und wieder hämmerte er auf die Tasten.
Viktors gute Stimmung vertrug sich glänzend mit der poetischen Düsternis seiner ›Kreuzchen‹. Und selbst die letzte Beerdigung, das bereits zweite ›Begräbnis mit Pinguin‹, brachte ihn nicht aus dem Konzept, obwohl er diesmal die Trauerfeier für den unbekannten Entschlafenen von Anfang bis Ende durchstehen mußte. Aber merkwürdigerweise war sie gar nicht so schlimm. Niemand der gut zweihundert Teilnehmer beachtete ihn besonders. Außer Ljoscha natürlich, der sich neben ihn setzte. Aber Ljoscha betrank sich schnell, schob den Teller beiseite und schlief mit dem Kopf auf der Tischdecke ein, oder genauer auf der Stoffserviette.
Beim Leichenschmaus wurden keine Reden gehalten. An zwei langen Tischen wechselten gut angezogene Männer professionell traurige Blicke und hoben die Wodkagläser. Viktor machte sich mühelos diese schweigende Art des Umgangs zu eigen und nickte ebenfalls, wenn er sein Glas hob, den gegenüber sitzenden Menschen zu und sah sie mit aufrichtiger Trauer an. Er war tatsächlich traurig, aber der Entschlafene hatte damit nichts zu tun. Eher bedrückte ihn die Atmosphäre dieser Trauerfeier. Am Tisch saßen fast nur Männer. Als er sich umdrehte, bemerkte Viktor drei oder vier Frauen, alle im vorgerückten Alter, und ihre echte Trauer machte sie gleichsam zur Quelle des Leids an sich. Als die Trauerfeier zu Ende war, setzten sie ihn in einen der vor dem Restaurant wartenden Wagen. Zusammen mit ihm fuhren noch drei unbekannte Männer im Auto. Aber sie hatten nicht vor, sich ihm vorzustellen. Einer fragte nur, wo er wohne, und sagte dann
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