Picknick auf dem Eis (German Edition)
eilte die Treppe hinunter.
Viktor sah ihm nach, dann kehrte er in die Wohnung zurück, warf die Akten auf den Küchentisch und ging ins Wohnzimmer zum Telefon. Wieder überkamen ihn verworrene Gefühle. Irgendwas hielt ihn zurück.
»Ich muß anrufen«, flüsterte er wieder und rührte sich nicht von der Stelle. Er starrte den Telefonapparat an, als könne der von allein anrufen und alles Notwendige sagen.
Schließlich wählte er die Nummer der Klinik, fragte nach Ilja Semjonowitsch und atmete erleichtert auf, als er erfuhr, daß Ilja Semjonowitsch nicht da war.
An diesem Tag rief er nicht mehr an. Er machte sich an seine Arbeit und schrieb drei Nachrufe, bevor Nina und Sonja zurückkehrten. Noch zwei und er könnte den Chef wieder anrufen. Sollte der ruhig mal sehen, wie schnell er jetzt arbeitete.
Am nächsten Morgen rief Ljoscha an.
»Hör zu, Alter, morgen ist ein sehr seriöses Begräbnis«, verkündete er.
»Ich fürchte, dieses Begräbnis wird ohne den Pinguin stattfinden«, seufzte Viktor. »Er hat sich bei der letzten Beerdigung erkältet, und niemand weiß, ob er sich überhaupt wieder aufrappelt oder nicht…«
Viktor erzählte dem erschrockenen Ljoscha alles.
»Hör zu«, sagte Ljoscha. »Sollte ich schuld sein, dann laß mich das erledigen. Wo ist er jetzt?«
Viktor gab ihm Ilja Semjonowitschs Telefonnummer.
»Ich rufe dich an!« sagte Ljoscha zum Schluß. »Sei nicht traurig!«
Am Abend rief er tatsächlich an.
»Es ist alles okay«, sagte er tröstend. »Unsere Jungs übernehmen die Finanzen und auch die Operation. Dein Ilja Semjonowitsch ist schwer in Ordnung. Er wird dich ab jetzt jeden Tag selber anrufen und über alles berichten… Im übrigen, möchtest du morgen mit mir auf die Beerdigung gehen? Wir könnten hinterher beim Leichenschmaus noch einen heben?« fragte Ljoscha wie aus heiterem Himmel.
»Bin ich denn ein Pinguin?« fragte Viktor traurig zurück.
Wieder in der Küche an seiner Schreibmaschine empfand Viktor trotz der plötzlich aufgetauchten Hoffnung eine seltsame Unruhe. ›Unsere Jungs‹, er konnte sich denken, was das für Jungs waren, hatten beschlossen, für die Operation zu zahlen, und wahrscheinlich auch die Suche nach einem Spenderherz auf sich genommen…
Viktor mochte keine Horrorfilme, aber die augenblickliche Situation schien ihm direkt aus einem solchen Film zu stammen.
Kopfschüttelnd verdrängte Viktor diese Assoziationen, und seine Gedanken kehrten wieder zu den ›Jungs‹ zurück. Warum hatten sie beschlossen, das alles auf sich zu nehmen? Wer waren sie, diese ach so guten Menschen? Oder liebten sie einfach Tiere so sehr? Waren sie ihm, Viktor, etwas schuldig? Oder dem Pinguin?
Die Fragen ermüdeten Viktor, und er wollte an etwas anderes denken. Aber seine Gedanken kreisten unaufhörlich um den kranken Pinguin.
Plötzlich fiel ihm die Fernsehsendung ein, bei der die hübsche Ansagerin Sponsoren aufgefordert hatte, Geld für ein Flugzeug mit Lebensmitteln für die ukrainische Forschungsstation in der Antarktis zu spenden, und er suchte den Zettel mit der Telefonnummer und dem Spendenkonto.
Ihm kam eine Idee, und da wurde ihm gleich fröhlicher zumute. ›Wenn Mischa überlebt‹, dachte er, ›muß man ihn mit diesem Flugzeug in die Antarktis, in seine Heimat, fliegen. Ich muß denen Geld überweisen, aber nur unter der Bedingung, daß sie ihn dort im Eis freilassen. Das werden sie mir bestimmt nicht abschlagen…‹
Mit diesem beruhigenden Gedanken setzte sich Viktor wieder an seine Schreibmaschine und schaffte die beiden letzten Nekrologe innerhalb von zwei Stunden.
Abends rief Ilja Semjonowitsch an.
»Sie wissen, daß alles in Ordnung ist?« fragte er.
»Ja«, sagte Viktor.
»Nun, was kann ich Ihnen sagen… Sie haben tolle Freunde… Der Zustand des Pinguins ist stabil. Wir beginnen mit den Vorbereitungen für die Operation.«
»Ist denn schon alles für die Operation vorhanden?« fragte Viktor.
»Nein, noch nicht. Aber ich denke, das ist eine Frage von drei, vier Tagen. Ich rufe Sie morgen wieder an.«
Nach einer halben Stunde, als Sonja ihn beim Abendessen fragte: »Wie geht es Mischa?« antwortete er erleichtert: »Er wird gesund werden.«
67
Es war sehr spät, und Viktor war immer noch wach. Sonja und Nina träumten schon lange, und er saß im Dunkeln in der Küche und beobachtete, wie im Haus gegenüber das Licht in den Fenstern eines nach dem anderen ausging.
Er mochte nicht schlafen. Das hatte nichts mit Schlaflosigkeit zu
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