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Picknick auf dem Eis (German Edition)

Picknick auf dem Eis (German Edition)

Titel: Picknick auf dem Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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tun. Er genoß einfach die Stille und betrachtete die schlafende Stadt. Das Ticken des Weckers, der wieder auf seinem Platz auf dem Fensterbrett stand, nervte ihn nicht mehr. Alle Aufregung war vergessen. Die Ruhe ließ sogar seine Gedanken langsamer werden, sie flossen jetzt wie ein träger Fluß vor seinen Augen dahin.
    Es schien, als ob sein Leben nach all diesen Erschütterungen, unangenehmen Entdeckungen, dunklen Verdächtigungen wieder seinen normalen Gang ging. Und nur in so einer Verfassung konnte er in die Zukunft blicken. Seine Zukunft konnte er sich überhaupt nur vorstellen, wenn er sich bemühte, vorwärts zu schauen und sich nicht damit aufzuhalten, Geheimnisse zu entschlüsseln oder den wechselhaften Sinn des Lebens zu ergründen. Das Leben ist ein Weg, wenn man Umwege macht, scheint es noch länger. Ein langer Weg ist ein langes Leben. Dabei ist der Prozeß wichtiger als das Ziel, obwohl das Endziel des Lebens sowieso immer dasselbe ist: der Tod.
    Und er ging eben Umwege, umging intuitiv die geschlossenen Türen, hinterließ trotzdem Spuren. Diese Spuren hafteten in seinem Gedächtnis, in seiner Vergangenheit, die ihn aber nicht mehr so stark belastete.
    Im Haus gegenüber brannte nur in drei Fenstern noch Licht, aber es waren andere Fenster als neulich nachts. Die Leute, die hinter diesen Fenstern wohnten, interessierten Viktor nicht. Er wollte diese Frau sehen, die er in der letzten schlaflosen Nacht beobachtet hatte. Aber selbst ihre Abwesenheit brachte ihn heute nicht aus der Ruhe.
    Ihm war, als wäre er hinter das Geheimnis eines langen Lebens gekommen: Ein langes Leben hing von der inneren Ruhe ab. Die Ruhe war die Quelle des Selbstvertrauens, und mit Selbstvertrauen konnte man das Leben vor unnützen Aufregungen und Umstürzen bewahren. Selbstvertrauen ließ einen Lösungen finden, die das Leben verlängerten. Selbstvertrauen führte in die Zukunft.
    Viktor blickte in die Zukunft. Ihm schien, als ob er das erste Mal in seinem Leben all das ganz deutlich sah, was seinen ruhigen Weg gestört hatte. Und so seltsam es klang, alles hing irgendwie mit seinem geliebten Pinguin zusammen. Obwohl Mischa keine direkte Schuld traf, war er doch die Ursache dafür, daß Viktors Leben immer komplizierter geworden war. Mischa hatte Viktor in den trauernden Kreis der Menschen mit erhöhter Sterblichkeit gezogen, und nur Mischa selber konnte ihn von diesen Menschen befreien. ›Mischa muß verschwinden‹, dachte Viktor, ›dann verschwindet auch Ljoscha mit seinem Fernglas, und es verschwinden die teuren Särge mit den vergoldeten Griffen aus meinem Leben‹. Von zwei Übeln blieb nur eins übrig: seine Arbeit. Aber das war ein Übel, mit dem sich Viktor schon seit langem abgefunden hatte. Ein fremdes Übel, dem er für dreihundert Dollar im Monat einen philosophischen Sinn gab. An diesem Übel war er nur indirekt beteiligt, er war ein unwichtiges Anhängsel.
    Viktor lächelte, als er sich Mischa im antarktischen Eis vorstellte. Das war die Lösung. Eine Lösung, die beiden Nutzen brachte. Nutzen und Freiheit. Wenn nur die Operation gelänge… Und selbst wenn sich die ›Jungs‹, die alle Unkosten auf sich genommen haben, ärgern würden, daß Mischa verschwunden war, was könnten sie schon tun? Was konnten sie gegen Viktor machen, der einen ihm selbst unbekannten ›Schutz‹ genoß, von dem der selige Mischa-Nicht-Pinguin und sein Freund-Feind Sergej Tscherkalin mit solcher Hochachtung gesprochen hatten.
    Und so lauschte er in sich hinein und hörte schon den ruhigen und gleichmäßigen Rhythmus seines zukünftigen Lebens.
    Im gegenüberliegenden Haus erlosch das Licht im letzten Fenster, dafür war das diffuse Mondlicht auf dem Hof um so deutlicher zu erkennen.
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    Es vergingen einige Frühlingstage. Jeden Abend klingelte das Telefon, und Ilja Semjonowitsch referierte über Mischas Befinden. Das Befinden war stabil. Viktors Stimmung war ebenfalls stabil, genau wie das Wetter. Nina und Sonja verschwanden immer gleich am frühen Morgen, Nina wollte dem Kind den Frühling zeigen. Sie studierten den Frühling wie ein Schulfach. Dieses Spiel gefiel anscheinend beiden. Und Viktor gefiel ihre Abwesenheit. So konnte er in Ruhe arbeiten. Die ›Kreuzchen‹ schrieb er schnell und leicht und wartete schon auf den Anruf des Chefs. Er dachte, der würde ihn loben, aber vorerst rief er gar nicht an. Überhaupt rief niemand an außer Ilja Semjonowitsch. Der Revierpolizist Sergej, der einzige Mensch, dessen Anrufe

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