Picknick mit Bären
– die hatten das beste Zeug, was ich je gesehen habe, alles neu, mit allen Schikanen – und waren gerade mal ein, zwei Kilometer gelaufen, und schon geben sie auf. Sie sagten, es wäre nicht das, was sie erwartet hätten.«
»Was haben sie denn erwartet?«
»Was weiß ich? Vielleicht Rolltreppen. Aber außer Bergen und Felsen und Wald und dem Weg gibt’s da nichts. Das weiß doch selbst der Dümmste. Aber Sie wären erstaunt, wieviel Leute aufgeben. Andererseits – neulich hatte ich hier einen Jungen, es ist vielleicht sechs Wochen her, der hätte besser aufgegeben. Er hatte gerade den Trail absolviert, war den ganzen Weg von Maine bis hierher allein gelaufen. Er hatte acht Monate dazu gebraucht, länger als die meisten, und ich glaube, in den letzten Wochen war er keiner Menschenseele mehr begegnet. Am Ende war er ein einziges Wrack, zitterte am ganzen Leib. Ich hatte seine Frau dabei. Sie war mitgekommen, um ihn abzuholen, und er sank bloß in ihre Arme und fing an zu heulen. Er bekam kein Wort heraus. Und so ging’s die ganze Fahrt zum Flughafen. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so erleichtert war, es hinter sich gebracht zu haben. Es hat Sie niemand gezwungen, den Appalachian Trail zu gehen, Sir, habe ich mir nur gedacht. Aber ich habe natürlich meinen Mund gehalten.«
»Können Sie, wenn Sie die Leute absetzen, erkennen, ob sie es schaffen werden oder nicht?«
»Im allgemeinen, ja.«
»Glauben Sie, daß wir es schaffen werden?« sagte Katz.
Er musterte uns nacheinander. »Ach, Sie werden es schon schaffen«, antwortete er, aber in seinem Gesicht stand etwas anderes zu lesen.
Die Amicalola Falls Lodge, die man über eine lange Serpentinenstraße durch den Wald erreicht, liegt in luftiger Höhe an einem Berghang. Der Mann am Flughafenschalter in Manchester hatte auf jeden Fall den richtigen Wetterbericht gehört. Es herrschte eine grimmige Kälte, als wir aus dem Auto stiegen. Aus allen Richtungen fegte ein heimtückischer, eisiger Wind und schob einem Ärmel und Hosenbeine hoch.
»Meine Fresse!« rief Katz höchst erstaunt, als hätte soeben jemand einen Eimer mit Eiswürfeln über ihn ausgeschüttet, und rannte in die Hütte. Ich zahlte und folgte ihm.
Die Hütte war modern eingerichtet und gut geheizt. Sie hatte einen offenen Empfangsraum, der von einem gemauerten Kamin beherrscht wurde, und nichtssagende, bequeme Zimmer, wie man sie in jedem Holiday Inn vorfindet. Wir sagten uns gute Nacht und verabredeten uns für morgen früh, sieben Uhr. Ich zog mir eine Cola aus dem Automaten im Flur, stellte mich unter die heiße Dusche, machte verschwenderischen Gebrauch von den Handtüchern, und bettete mich zwischen gestärkte Laken – wie lange würde ich auf diesen Luxus wohl verzichten müssen –, sah mir von glücklichen, unbekümmerten Moderatoren vorgebrachte, entmutigende Berichte auf dem Wetterkanal an und schlief kaum.
Ich war vor Tagesanbruch auf und setzte mich ans Fenster, als die blasse Dämmerung widerwillig die Landschaft freigab – ein kahles, scheinbar grenzenloses Gelände aus mächtigen, geschwungenen Hügeln, mit Reihen nackter Bäume, alles von einer hauchdünnen Schicht Pulverschnee bedeckt. Es sah nicht gerade abschreckend aus – wir befanden uns hier nicht im Himalajagebirge –, aber auch nicht so einladend, daß man unbedingt rausgehen wollte.
Als ich zum Frühstück runterging, kam die Sonne heraus und erfüllte die Welt hoffnungsfroh mit ihrem Licht, und ich trat nach draußen, um die Luft zu schnuppern. Die Kälte war fürchterlich, wie ein Schlag ins Gesicht, und es wehte noch immer ein scharfer Wind. Kleine trockene Flocken wirbelten wie Styroporkügelchen durch die Luft. Ein großes Thermometer am Hütteneingang zeigte -12 Grad Celsius an.
»Die schlimmste Kälte, die wir je um diese Zeit in Georgia hatten«, sagte eine Hotelangestellte mit einem breiten, zufriedenen Lächeln zu mir, als sie eilig vom Parkplatz heraufkam. Dann blieb sie stehen und fragte: »Wollen Sie wandern?«
»Ja.«
»Ich möchte nicht mit Ihnen tauschen. Trotzdem viel Glück. Brrrrr!« sagte sie und schlüpfte hinein.
Zu meiner Überraschung verspürte ich plötzlich einen heftigen Bewegungsdrang. Ich wollte endlich loswandern. Immerhin hatte ich seit Monaten auf diesen Tag gewartet, wenn auch meist mit gemischten Gefühlen. Ich wollte sehen, wie es da draußen zuging. Abertausende Menschen in ganz Amerika würden sich heute zur Arbeit quälen, im Stau stecken und Abgase einatmen.
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