Picknick mit Bären
Stapfen verliert sich allmählich das Gefühl dafür, wie weit man schon gelaufen ist. Jedesmal, wenn man sich zum vermeintlichen Bergkamm geschleppt hat, stellt man fest, daß der Berg dahinter nicht etwa aufhört, sondern noch weiter ansteigt, in einem Winkel, der einem vorher verborgen geblieben war, und daß hinter diesem Hang der nächste Hang liegt, und dahinter noch einer und noch einer, und dahinter immer noch welche, bis es einem absolut unmöglich erscheint, daß der Berg sich so endlos lang hinziehen kann. Schließlich erreicht man ein Niveau, von dem aus man die Wipfel der am höchsten gelegenen Bäume erkennen kann, dahinter strahlend blauen Himmel, und das schwankende Gemüt des Wanderers richtet sich auf – endlich da! –, doch dann, welch gnadenlose Enttäuschung. Der Gipfel entzieht sich kontinuierlich immer um genau die Distanz, die man gerade zurückgelegt hat, so daß man jedesmal, wenn sich das Dach aus Bäumen vor einem weit genug öffnet, um einen Blick freizugeben, mit Bestürzung erkennt, daß die am höchsten gelegenen Bäume so fern, so unerreichbar sind wie zuvor. Trotzdem stapft man weiter. Was bleibt einem anderes übrig?
Wenn man dann, nach unendlich langer Zeit, in die wirklich höheren Gefilde kommt, wo die kühle Luft nach Harz duftet, die Vegetation knorrig und zäh und windgebeutelt ist, und man bis zur kahlen Bergspitze vorgedrungen ist, kann einem nichts mehr etwas anhaben. Man legt sich flach auf den Bauch, streckt alle viere von sich, wird von dem Gewicht des Rucksacks auf das abschüssige, gneisige Gestein gepreßt, verharrt einige Minuten in dieser Position und sinniert auf sonderbar distanzierte, außerkörperliche Weise darüber, daß man Flechten noch nie aus solcher Nähe betrachtet hat, überhaupt noch nie etwas Natürliches so nahe gesehen hat, seit man vier Jahre alt war und seine erste Lupe geschenkt bekommen hatte. Schließlich rollt man mit einem matten Schnaufer auf die Seite, schnallt den Rucksack ab, rappelt sich hoch und erkennt – auch dies wie benommen, als wäre man nicht ganz anwesend –, daß die Aussicht spektakulär ist: bewaldete Berge, so weit das Auge reicht, unberührt von Menschenhand, in alle Richtungen. Es könnte himmlisch sein. Es ist herrlich, keine Frage, aber es kommt einem der Gedanke, vor dem es kein Entrinnen gibt, daß man sich nämlich diesen Ausblick zu Fuß erobern mußte und daß das nur ein Bruchteil dessen ist, was man noch durchwandern muß, um bis ans Ziel zu gelangen.
Man vergleicht die Karte mit der umliegenden Landschaft und stellt fest, daß der Pfad steil in ein Tal hinabgeht – eigentlich eine Schlucht, den Schluchten nicht unähnlich, in die der Kojote in den Roadrunner-Zeichentrickfilmen immer abtaucht, Schluchten, deren Tiefpunkte sich im Nichts verlieren – und einen an den Fuß eines Berges bringt, der noch steiler und gewaltiger ist als der, auf dem man steht, und daß man seit dem Frühstück 2,73 Kilometer zurückgelegt haben wird, wenn dieser unsäglich beschwerliche Gipfel erklommen ist, während der Plan, den man sich zu Hause am Küchentisch so schön zurechtgelegt und nach höchstens drei Sekunden des Nachdenkens aufgeschrieben hatte, bis zum Mittagessen 14,32 Kilometer, bis zum Abendessen glatte 27 Kilometer und für morgen noch größere Entfernungen vorsieht.
Aber vielleicht regnet es ja auch, einen kalten, peitschenden, erbarmungslosen Regen, mit Blitz und Donner, der sich bereits auf den benachbarten Bergen austobt. Vielleicht kommt ein Zug Pfadfinder in einem niederschmetternden Tempo vorbei. Vielleicht friert man und hat Hunger und stinkt so erbärmlich, daß man sich selbst nicht mehr riechen kann. Vielleicht will man sich einfach nur hinlegen und es den Flechten gleichtun, nicht unbedingt tot sein, aber ruhen, lange ausruhen, ganz lange ausruhen.
Aber das lag alles noch vor mir. Heute brauchte ich auf einer gut markierten Strecke von 11,2 Kilometern nur vier mittelmäßig hohe Berge bei klarem, trockenen Wetter zu überqueren. Das war doch wohl nicht zuviel verlangt. Im Gegenteil. Es war zu viel verlangt. Es war die Hölle.
Ich weiß nicht mehr genau, wann ich Katz aus den Augen verlor, aber es war schon nach wenigen Stunden. Zuerst hatte ich immer noch gewartet, bis er aufgeholt hatte. Er fluchte bei jedem Auftreten, blieb nach drei, vier schlurfenden Schritten stehen, wischte sich die Stirn und sah verdrießlich auf die nächsten paar Meter, die unmittelbar vor ihm lagen. Es war schwer
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