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Picknick mit Bären

Picknick mit Bären

Titel: Picknick mit Bären Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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ist?«
    »Wehe, du vermiest mir noch einmal ein Stück Kuchen. Dann kannst du was erleben.«
    Er zuckte mit den Schultern. »Na gut, in Ordnung. Meine Güte«, sagte er und trottete weiter.
    Ein paar Tage später erfuhren wir, daß Mary Ellen aus dem Rennen war. Sie hatte sich bei dem Versuch, 56 Kilometer in zwei Tagen zurückzulegen, Blasen gelaufen. Schwerer Fehler.

6. Kapitel
     
    Geht man zu Fuß durch die Welt, nimmt man Entfernungen vollkommen anders wahr. Ein Kilometer ist ein Spaziergang, zwei Kilometer sind ein weiter Weg, zehn Kilometer ein ordentlicher Marsch, und 50 Kilometer hegen fast jenseits der Vorstellungskraft. Die Welt wird, das merkt man schnell, zu einem Riesenreich, das nur Sie und die kleine Schar Ihrer Mitwanderer kennen. Globales Denken heißt Ihr kleines Geheimnis.
    Außerdem ist das Leben einfach und geregelt. Zeit hat nicht die geringste Bedeutung mehr. Wenn es dunkel wird, legt man sich schlafen, wenn es hell wird, steht man auf, und alles, was dazwischen liegt, ist das, was dazwischen liegt. Mehr nicht. Es ist herrlich. Wirklich, glauben Sie mir. Man hat keine Termine, keine Bindungen, keine Verpflichtungen und keine Aufgaben, man hat auch keine besonderen Ambitionen, man hat nur die kleinsten, schlichtesten Wünsche, die sich leicht erfüllen lassen. Man existiert in einem Zustand der gelassenen Langeweile, der keine Aufgeregtheit etwas anhaben kann, »endlos fern von den Stätten des Streits«, wie es einer der früheren Forscher und Pflanzenkundler, William Bartram, ausdrückte. Das einzige, was einem abverlangt wird, ist die Bereitschaft weiterzutrotten.
    Eile ist völlig fehl am Platz, weil man nirgendwo hin muß. Egal, wie weit oder lange man wandert, man ist immer am gleichen Ort, im Wald. Da war man gestern, und da wird man morgen wieder sein. Der Wald ist grenzenlos in seiner Einzigartigkeit. Hinter jeder Wegbiegung eröffnet sich ein Ausblick, der sich von allen vorherigen nicht unterscheidet, und ein Blick in die Baumkronen bietet immer das gleiche Gewirr. Es könnte passieren, daß man sinnlos im Kreis geht, man würde es nicht merken. Aber eigentlich wäre das auch egal.
    Es gibt Momente, da ist man sich fast sicher, diesen einen Hügel vor drei Tagen schon mal hinaufgekraxelt zu sein, jenen Bach gestern schon mal überquert zu haben, und über diesen gestürzten Baum heute mindestens schon zweimal gestiegen zu sein, aber meistens kommt man gar nicht zum Denken. Es hat keinen Sinn. Statt dessen befindet man sich in einem Zustand, den man als Zen der Bewegung bezeichnen könnte. Der Verstand ist wie ein Fesselballon mit Seilen angebunden und begleitet den restlichen Körper nur, ist aber kein Teil von ihm. Das stundenlange, kilometerweite Gehen wird zu einer automatischen Angelegenheit, es geschieht fast ohne daß man es bemerkt, wie das Atmen. Am Ende des Tages denkt man nicht: »Mensch, heute habe ich 25 Kilometer geschafft«, genauso wenig wie man denkt: »Heute habe ich achttausendmal ein- und ausgeatmet.« Man macht es einfach. Punkt.
    Und so marschierten wir also, Stunde um Stunde, über Hügel und Berge, wie auf einer Achterbahn, messerscharfe Kämme entlang und über grasbewachsene Kuppen, durch unermeßlich tiefe Wälder – Eiche, Esche, Kastanie und Fichte. Der Himmel wurde düsterer und die Luft kühler, aber erst am dritten Tag setzte der Schneefall ein. Es fing morgens an, mit einzelnen hauchzarten« Flocken, kaum wahrnehmbar. Dann kam Wind auf, und noch mehr Wind, bis er mit einer das Weltende ankündigenden Macht wehte, die selbst die Bäume in Angst und Schrecken versetzte.  Mit dem Wind kam der Schnee, riesige Mengen. Um die Mittagszeit mußten wir gegen einen kalten, scharfen, wütenden Sturm ankämpfen, und kurz danach gelangten wir an ein schmales Gesims, über das der Weg eine Felswand entlang führte, Big Butt Mountain.
    Selbst bei idealen Wetterbedingungen erfordert der Pfad um den Big Butt viel Vorsicht und Geschick. Er sieht aus wie eine Fensterbank an einem Hochhaus, ist knapp 40 Zentimeter breit, an manchen Stellen bröckelig, zur einen Seite tut sich ein jäher Abgrund von etwa 25 Meter auf, zur anderen ragt eine bedrohlich steile Granitwand auf. Ein paarmal trat ich fußgroße Steinbrocken los und sah mit lähmendem Entsetzen, wie sie in die tiefsten Tiefen hinunterkrachten, ihren ewigen Ruhestätten entgegen. Der Pfad war mit Steinen gepflastert, durchwirkt von mäandernden Baumwurzeln, gegen die man fortwährend stieß oder über die man

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