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Picknick mit Bären

Picknick mit Bären

Titel: Picknick mit Bären Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Pick-up-Trucks, und drinnen saßen lauter Fleischklöpse mit Baseballmützen auf dem Kopf. Wenn ich in die Menge gerufen hätte: »Telefon für dich, Bubba!« es wäre bestimmt jeder zweite aufgesprungen. Das Georgia Mountain verfügte nicht gerade über eine Küche, für die sich eine Anreise gelohnt hätte, nicht mal innerhalb der Stadtgrenzen von Hiawassee, aber dafür war das Essen einigermaßen billig. Für 5,50 Dollar bekam man »Fleisch plus drei« – die Zahl bezog sich auf die Beilagen –, einen Gang ans Salatbüffet und Nachtisch. Ich bestellte gebratenes Hühnchen, Erbsen, Röstkartoffeln und »Ruterbeggars« (gelbe Kohlrüben, die korrekterweise »Rutabagas« geschrieben werden wie auf der Speisekarte zu lesen war). Die hatte ich noch nie probiert und werde sie wohl auch so schnell nicht wieder probieren. Wir aßen schmatzend und mit« Lust und bestellten viel Eistee zum Runterspülen.
    Der Nachtisch war natürlich der Höhepunkt. Jeder Wanderer auf dem Trail träumt unterwegs von irgendeinem Gericht, meist etwas Süßem, Klebrigem. Die Phantasie, die mich am Laufen hielt, rankte sich um ein überdimensionales Stück Kuchen. Es hatte mich tagelang beschäftigt, und als die Kellnerin jetzt kam, um unsere Bestellung aufzunehmen, bat ich sie mit einem fle henden Blick, wobei ich meine Hand auf ihren Unterarm legte, mir das größte Stück Kuchen zu bringen, das sie mir abschneiden konnte, ohne ihren Job zu riskieren. Sie brachte mir ein riesiges, pappiges, kanariengelbes Stück Zitronenkuchen. Es war ein wahres Monument der Lebensmittelindustrie, so knallgelb, daß man vom Anblick allein Kopfschmerzen bekam, so süß, daß es einem die Augäpfel in die Stirnhöhlen trieb – kurzum, es bot alles, was man von einem Kuchen dieser Sorte erwartete, solange man Geschmack und Qualität als Bewertungskriterien vernachlässigte. Ich wollte gerade herzhaft reinbeißen, als Katz sein langes Schweigen brach und mit großer Nervosität in der Stimme sagte: »Weißt du, was ich die ganz Zeit mache? Ich gucke alle paar Minuten zur Tür, um zu sehen, ob Mary Ellen hereinkommt.«
    Ich hörte auf zu essen, die Gabel mit der fettglänzenden Masse auf halbem Weg zum Mund, und stellte mit beiläufigem Staunen, fest, daß sein Nachtischteller bereits leer war. »Du willst mir doch nicht weismachen, daß sie dir fehlt, Stephen?« sagte ich und schob die Gabel dahin, wo sie hingehörte.
    »Nein«, sagte er sauer. Er fand meine Frage überhaupt nicht komisch. Er rang nach Worten, um seinen komplizierten Gefühlen Ausdruck zu geben. »Ich finde, wir haben sie irgendwie sitzengelassen«, platzte er schließlich heraus.
    Ich ließ mir den Vorwurf durch den Kopf gehen. »Eigentlich haben wir sie nicht irgendwie sitzengelassen. Wir haben sie sitzengelassen. Ganz einfach.« Ich war absolut nicht seiner Meinung. »Na und?«
    »Ich habe irgendwie ein schlechtes Gefühl – nur irgendwie –, weil wir sie allein, auf sich gestellt, im Wald zurückgelassen haben.« Dann verschränkte er die Arme, als wollte er damit sagen: So, jetzt ist es raus.
    Ich legte die Gabel beiseite und überlegte. »Sie ist doch auch allein losgegangen«, sagte ich. »Wir sind nicht für sie verantwortlich. Wir haben keinen Vertrag abgeschlossen, nach dem wir uns um sie zu kümmern hätten.«
    Noch während ich das sagte, wurde mir mit schrecklicher, zunehmender Deutlichkeit klar, daß er recht hatte. Wir hatten Mary Ellen abgehängt und sie den Bären, Wölfen und geil lechzenden Bergbewohnern überlassen. Ich war dermaßen mit meiner eigenen wilden Gier nach Essen und einem richtigen Bett beschäftigt gewesen, daß mir nicht in den Sinn gekommen war, was unser plötzliches Verschwinden für sie bedeuten würde – eine Nacht allein zwischen rauschenden Bäumen, umgeben von Finsternis, die Ohren gezwungenermaßen gespitzt, auf das vielsagende Knacken eines Astes oder Zweiges unter einem schweren Fuß oder einer Tatze lauschend. So etwas gönnte ich keinem Menschen. Mein Blick fiel auf meinen Kuchen, und ich merkte, daß mir der Appetit vergangen war. »Vielleicht hat sie jemand anderen gefunden, mit dem sie ihr Lager teilen kann«, erwiderte ich lahm und schob den Teller von mir weg.
    »Bist du heute unterwegs irgend jemandem begegnet?«
    Er hatte recht. Wir hatten fast keine Menschenseele gesehen.
    »Wahrscheinlich ist sie jetzt immer noch unterwegs«, sagte Katz mit einer Spur plötzlicher Aufregung. »Und fragt sich, wo wir beide bloß abgeblieben sind.

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