Picknick mit Bären
Eight Bullets steht, das ich in der Hauptgeschäftsstelle des ATC gekauft hatte. Die Geschichte ist schnell erzählt. Im Mai 1988 erregten zwei junge Hiker, Rebecca Wight und Claudia Brenner, die zufällig auch lesbisch waren, die Aufmerksamkeit eines gestörten Mannes mit einem Gewehr, der aus der Ferne achtmal auf die beiden schoß, als sie auf einer laubübersäten Lichtung neben dem Trail miteinander schliefen. Wight wurde getötet. Claudia Brenner gelang es, schwer verwundet, den Hügel hinunterzulaufen, auf eine Straße, wo sie von Jugendlichen, die in einem Pick-up vorbeifuhren, gerettet wurde. Der Mörder wurde schnell gefaßt und verurteilt.
Im Jahr darauf wurden in einer Schutzhütte ein paar Kilometer nördlich von hier ein junger Mann und eine Frau von einem herumstreunenden Mann ermordet, was Pennsylvania für eine Weile einen schlechten Ruf einbrachte, aber dann kam es sieben Jahre lang zu keinen weiteren Morden entlang des AT, bis zu dem gewaltsamen Tod der beiden jungen Frauen kürzlich im Shenandoah National Park. Ihr Tod erhöhte die offizielle Zahl der Mordfälle auf neun – eine recht hohe Zahl für einen Wanderweg, daran gibt es nichts zu deuteln –, obwohl es in Wahrheit vermutlich mehr waren. Zwischen 1946 und 1950 verschwanden drei Personen während einer Wanderung durch ein relativ kleines Gebiet in Vermont, aber sie sind in der Zählung nicht berücksichtigt – ob das daran liegt, daß es so lange her ist oder weil nie abschließend geklärt wurde, ob sie ermordet wurden, kann ich nicht sagen. Ein Bekannter in New England erzählte mir außerdem von einem älteren Ehepaar, das in den 70er Jahren in Maine von einem Mann mit einer Axt umgebracht worden war, aber auch dieser Fall taucht in der Statistik nicht auf, denn offenbar befanden sich die beiden auf einem Nebenwanderweg, als sie angegriffen wurden.
Eight Bullets, Brenners Bericht über den Mord an ihrer Freundin, las ich in einer Nacht durch, mir waren also die Umstände im großen und ganzen bekannt, aber ich ließ das Buch absichtlich im Auto liegen, weil es mir irgendwie ein bißchen morbid vorkam, knapp zehn Jahre danach den genauen Ort des Geschehens zu suchen. Ich war durch die Lektüre nicht im geringsten in Angst versetzt worden, aber ich spürte dennoch ein leichtes Unbehagen, so ganz allein im stillen Wald, weit weg von zu Hause. Katz fehlte mir, sein Stöhnen und Schimpfen, seine durch nichts zu erschütternde Unerschrockenheit, und mir mißfiel der Gedanke, daß ich warten könnte, bis ich schwarz würde, wenn ich mich auf dem nächsten Stein niederlassen würde, damit er aufholen konnte: Katz würde nicht kommen. Der Wald stand jetzt in seiner ganzen chlorophyllgeschwängerten Pracht, was ihn noch bedrückender und geheimnisvoller machte. Häufig konnte man keinen Meter weit durch das dichte Laubwerk zu beiden Seiten des Wegs sehen. Wenn mir jetzt zufällig ein Bär entgegengekommen wäre, hätte ich ziemlich dumm dagestanden. Und es wäre auch kein Katz nach einer Minute zur Stelle gewesen, um dem Tier die Fresse zu polieren und zu mir zu sagen: »Meine Güte, Bryson, kannst du nicht selbst auf dich aufpassen?« Es würde überhaupt niemand vorbeikommen, an dem man sich abreagieren konnte. Wahrscheinlich gab es im Umkreis von 80 Kilometern keinen einzigen Menschen außer mir. Ich stapfte weiter, von leichter Unruhe ergriffen und kam mir vor wie jemand, der zu weit aufs Meer hinausgeschwommen ist.
Es waren 5,6 Kilometer bis zum Gipfel des Piney Mountain. Oben angekommen, stand ich unschlüssig herum. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich noch ein Stück weitergehen oder umkehren und einen anderen Weg probieren sollte. Es lag eine gewisse Hilflosigkeit und entmutigende Sinnlosigkeit in allem, was ich tat. Ich wußte längst, daß ich nicht den gesamten AT schaffen würde, aber erst jetzt dämmerte es mir, wie läppisch und aussichtslos es war, sich die Strecke häppchenweise vorzunehmen. Es war im Grunde egal, ob ich fünf, zehn oder 15 Kilometer weit ging. Wenn ich 15 Kilometer ging statt, sagen wir zehn - was hätte ich dabei gewonnen? Ganz sicher keinen Ausblick, keine Erfahrung, kein Erlebnis, das ich nicht bereits tausendfach gehabt hatte. Das ist das Problem beim AT – er ist ein weiter, unvorstellbar langer Weg, und es gab immer mehr, unendlich viel mehr Wegstrecke, als ich bewältigen konnte. Nicht, daß ich aufhören wollte. Im Gegenteil. Ich ging gern, ich war scharf aufs Gehen. Ich wollte nur wissen,
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