Picknick mit Bären
was ich hier draußen eigentlich zu suchen hatte.
Während ich unentschlossen herumstand, hörte ich plötzlich ein trockenes Knacken in den Zweigen, wie eine unbedachte Bewegung im Unterholz, ungefähr 15 Meter von mir entfernt im Wald – es mußte ein ziemlich großes Tier sein, aber es war nicht zu sehen. Ich erstarrte, hörte auf zu atmen, zu denken, stellte mich auf Zehenspitzen und versuchte, zwischen den Blättern etwas zu erkennen. Wieder das Geräusch, diesmal näher. Was auch immer es verursachte, es kam direkt auf mich zu. Vor Angst leise wimmernd, lief ich ein paar hundert Meter; mein Tagesrucksack hüpfte auf und ab, Gläser klirrten, dann drehte ich mich um, mein Herzschlag setzte aus, und ich sah hinter mich. Ein Reh, ein großer Bock, schön und stolz, trat auf den Pfad, blickte mich einen Moment lang unverwandt an und trabte dann weiter. Es dauerte eine Zeitlang, bis ich wieder Luft bekam, dann wischte ich mir den Schweiß von der Stirn und fühlte mich vollkommen ernüchtert.
Irgendwann hat jeder Wanderer auf dem AT seinen persönlichen Tiefpunkt erreicht, für gewöhnlich dann, wenn der Wunsch aufzugeben geradezu überwältigend ist. Die Ironie in meinem Fall lag darin, daß ich auf den Trail zurück wollte, aber nicht wußte wie. Ich hatte nicht nur Katz verloren, meinen lustigen Gefährten, sondern meine ganz eigene Beziehung zum Trail. Mir war jeder Antrieb abhanden gekommen, das Gefühl für den Sinn und Zweck des Ganzen. Ich mußte wieder auf eigenen Füßen stehen, was ganz wörtlich gemeint war. Zu allem Übel zitterte ich jetzt auch noch vor Furcht, als wäre ich noch nie allein im Wald gewesen. Die ganzen Erfahrungen, die ich in den Wochen vorher auf dem Trail gesammelt hatte, machten es mir schwerer und nicht leichter, auf mich allein gestellt zu sein. Das hatte ich nicht erwartet. Es erschien mir nicht gerecht. Es stimmte irgendwie nicht. In niedergeschlagener Stimmung kehrte ich zu meinem Wagen zurück.
Ich verbrachte die Nacht in der Nähe von Harrisburg und fuhr am nächsten Morgen über Nebenstraßen in nördliche und östliche Richtung, quer durch den Bundesstaat. Ich hielt mich so dicht wie möglich an den Verlauf des Trail, blieb ab und zu stehen, um vor Ort ein Stück Weg zu gehen, entdeckte aber nichts, das irgendwie vielversprechend aussah, also fuhr ich die meiste Zeit.
Allmählich klangen die Ortsnamen unterwegs immer mehr wie in einem Industriegebiet – Port Carbon, Minersville, Slatedale. Ich hatte die eigentümliche, fast vergessene Welt des Kohlereviers von Pennsylvania erreicht. In Minersville bog ich in eine Nebenstraße und durchquerte eine Landschaft aus überwachsenen Abraumhalden und verrosteten Maschinen und fuhr bis nach Centralia, in die seltsamste, traurigste Stadt, die ich je gesehen habe.
Unter dem östlichen Teil Pennsylvanias liegen die reichsten Kohlenflöze der Welt. Bereits die ersten Europäer, die hier siedelten, erkannten, daß sich dort Kohle in unvorstellbaren Mengen befand. Es gab nur ein Problem: Es handelte sich fast ausschließlich um Anthrazitkohle, Steinkohle, eine Kohleart, die so ungemein hart ist – sie besteht zu 95 Prozent aus Kohlenstoff –, daß man lange Zeit rätselte, wie man sie ans Tageslicht befördern könnte. Erst 1823 kam ein erfinderischer Schotte namens James Neilson auf die geniale Idee, mittels eines Gebläses erhitzte statt kalte Luft in einen Eisenofen zu leiten. Das sogenannte Heißwindverfahren revolutionierte die Kohleindustrie auf der ganzen Welt (auch in Wales gab es viel Anthrazitkohle), aber besonders in den USA. Gegen Ende des Jahrhunderts produzierten die USA 270 Millionen Tonnen Kohle jährlich, annähernd so viel wie der Rest der Welt zusammengenommen, und der größte Teil davon kam aus der Kohleregion in Pennsylvania.
Mittlerweile hatte man dort auch Öl entdeckt, aber es wurde nicht nur entdeckt, sondern man fand auch Mittel und Wege, es industriell zu nutzen. Petroleum, auch Steinöl genannt, war schon seit langem eine Kuriosität im westlichen Pennsylvania. Es drang in Sickergruben an Flußufern an die Erdoberfläche, wo es mit Decken aufgefangen und zu Medikamenten verarbeitet wurde, die für ihre Wirksamkeit bei der Heilung aller möglichen Krankheiten, von Lymphknotentuberkulose bis Durchfall, geschätzt waren. Es war der rätselhafte Colonel Edwin Drake (der in Wahrheit gar kein Colonel, sondern pensionierter Lokomotivführer war, ohne jegliche geologische Kenntnisse) und sein
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