Pilger Des Hasses
was da so schnell geschehen war, aber sie wußte, daß sie Gefahr lief, ihren Geliebten zu verlieren, denn er floh erbarmungslos vor ihr, um eine unverständliche Pflicht zu erfüllen, an der sie keinen Anteil hatte. Sie sprang auf und rannte ihm nach, faßte seinen Arm, schlang die Arme um ihn, sah ihm flehend ins versteinerte, verzerrte Gesicht, und bat ihn leidenschaftlich: »Laß ihn gehen!
Oh, laß ihn doch gehen! Er will allein gehen und dich mir überlassen...«
Fast tonlos erklang über ihr das schreckliche Lachen, das so sehr im Widerspruch zu dem lieblichen Geräusch stand, das sie gehört hatte, als er mit ihr dem Reliquienschrein gefolgt war.
Das Lachen kochte wie dicker Sirup in seinem Hals. Er streifte ihre flehenden Hände ab, und als sie wieder auf die Knie fiel und sich mit ihrem ganzen verzweifelten Gewicht an ihn klammerte, riß er seine rechte Hand los und schlug ihr heftig ins Gesicht. Schluchzend und elend löste er sich und floh und ließ sie mit dem Gesicht auf dem Boden liegen.
In den Gemächern des Abtes saßen Radulfus und seine Gäste lange beim Mahl, denn sie hatten viel zu besprechen. Das Thema, das allen am Herzen lag, kam als erstes zur Sprache.
»Wie es scheint«, sagte der Abt, »durften wir heute morgen eine einzigartige Gunst genießen. Wir haben mitunter gewisse Gnadenerweise gesehen, aber noch nie einen so öffentlichen und überzeugenden und vor so vielen Augen. Was meint Ihr?
Ich habe viele Wunder gesehen, die bei näherer Betrachtung gar nicht mehr wunderbar waren. Ich weiß, wie Menschen sich und andere täuschen können. Sie tun es nicht immer vorsätzlich, denn manchmal wird der Täuschende selbst getäuscht. Wenn Heilige Macht besitzen, dann besitzen auch Dämonen Macht. Aber dieser Junge kommt mir vor wie ein Kristall. Ich kann nicht glauben, daß er täuscht oder getäuscht wurde.«
»Ich habe gehört«, erwiderte Hugh, »daß manche Krüppel, die ihre Krücken fortgeworfen haben, um frei zu laufen, zusammengebrochen sind, als der Augenblick der Verzückung vorbei war. Die Zeit wird zeigen, ob der Junge seine Krücken wieder benutzen muß.«
»Ich will später mit ihm sprechen«, erklärte der Abt, »wenn er sich beruhigt hat. Bruder Edmund erzählte mir, daß Bruder Cadfael den Jungen in den drei Tagen, die er hier verbrachte, behandelt hat. Das mag seinen Zustand gelindert haben, aber eine so wundersame Heilung kann die Behandlung nicht bewirkt haben. Nein, ich muß einräumen, daß ich wirklich glaube, unser Haus ist der Schauplatz einer göttlichen Gnade geworden. Ich werde auch mit Cadfael sprechen, der den Zustand des Jungen genau kennt.«
Olivier saß in Gegenwart eines so hochstehenden Kirchenmannes ehrerbietig schweigend am Tisch, doch Hugh bemerkte, daß er, als Cadfaels Name fiel, die Augenbrauen hob. Seine Augen begannen zu strahlen. Nun wußte er, wer der Gesuchte war, und daß zwischen dem seltsamen Paar etwas mehr als eine flüchtige Begrüßung stattgefunden hatte.
»Und jetzt würde ich mich freuen«, fuhr der Abt fort, »wenn ich erfahren könnte, welche Neuigkeit Ihr uns aus dem Süden bringt. Wart Ihr in Westminster am Hof der Kaiserin? Ich hörte, daß sie sich jetzt dort eingerichtet hat.«
Olivier berichtete bereitwillig, wie die Dinge in London standen, und beantwortete aufmerksam alle Fragen. »Mein Herr ist in Oxford geblieben, ich habe diesen Botengang auf seinen ausdrücklichen Wunsch unternommen. Ich war nicht in London, sondern bin von Winchester aus aufgebrochen. Aber die Kaiserin ist tatsächlich im Schloß von Westminster, und die Vorbereitungen für ihre Krönung machen gute Fortschritte - wenn auch sehr langsame. Die Stadt London ist sich ihrer Macht wohl bewußt und verlangt, daß ihre Rechte anerkannt werden; das ist jedenfalls mein Eindruck.« Er wollte nicht weiter auf das Unbehagen eingehen, das er angesichts der Weisheit seiner Lehnsherrin - oder des Mangels daran - verspürte, doch er schob zweifelnd eine Unterlippe vor und runzelte einen Augenblick die Stirn. »Vater, Ihr wart beim Konzil und wißt, was geschehen ist. Mein Herr verlor dort einen braven Ritter und ich einen teuren Freund. Er wurde auf der Straße niedergestreckt.«
»Rainald Bossard«, sagte Radulfus düster. »Ich habe es nicht vergessen.«
»Ehrwürdiger Vater, ich habe dem Herrn Sheriff bereits erzählt, was ich nun auch Euch berichten will. Denn ich habe noch einen zweiten Auftrag zu erfüllen, den ich mit meinem Botengang für die Kaiserin
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