Pilger des Zorns
Ebenso wenig wie die Panik in ihm. Einmal verschlafen – einmal im Leben. Und dann dies. Fast schien es, als habe sich alles gegen ihn verschworen.
Nur noch eine Stunde, und er wäre über alle Berge gewesen. In Sicherheit. An einem Ort, wo ihn niemand, nicht einmal der Burggraf, hätte behelligen können.
Aus der Traum. Sämtlichen Illusionen, die er bis zum heutigen Tage gehegt hatte, zum Trotz.
Für ihn jedoch kein Grund, sich aufzugeben. Wenn schon hilflos, würde er seinen Häschern mit erhobenem Haupt entgegentreten. Jetzt und hier. Selbst wenn es sich um eine hasserfüllte Rotte von Kriegsknechten handelte. Oder den Herrn Burggrafen höchstpersönlich, der es sich gewiss nicht nehmen lassen würde, ihn, Isaak Rubinstein, mit Schimpf und Schande aus der Stadt zu jagen.
Während er sich ankleidete, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Schaftstiefel, Tunika, wattiertes Wams – von einem Christen nicht zu unterscheiden. Zumindest nicht in diesem Aufzug. Isaak legte seinen Gürtel an und fuhr sich durch das dichte schwarze Haar. Drunten im Flur war die Stimme des Schankwirtes zu hören. Erfahrungsgemäß würde es jetzt nicht mehr lange dauern. Schließlich war sich jeder selbst der Nächste. Besonders dann, wenn es um einen 24-jährigen Juden ging, der es gewagt hatte, die Gewandung eines Christen zu tragen.
Das, was jeden Moment über ihn hereinbrechen würde, hatte er selbst schon erlebt. Oder kannte es zumindest aus Erzählungen. Weitaus am schlimmsten war es anno 1348 gewesen, in jenem Jahr, als der Schwarze Tod übers Land gekommen war. Da hatten sie seinen Großvater buchstäblich zu Tode geprügelt. Zu Tode geprügelt und in den Main geworfen. Wie einen Tierkadaver, den jeder möglichst rasch hatte loswerden wollen. Und anschließend wie üblich alte Rechnungen beglichen. Isaak schloss die Augen und fuhr mit der Handfläche übers Gesicht. So war das eben. Irgendwann erwischte es jeden von ihnen. Besonders dann, wenn man Geldgeschäfte betrieb. Oder, wie bei Großvater, die halbe Stadt bei einem in der Kreide stand.
Oder, wie in seinem Fall, man sich in die Tochter des hiesigen Zunftmeisters verliebt hatte.
Und darum hieß es jetzt Haltung bewahren, ungeachtet der Anspannung, unter der er stand. Oder, besser noch, einen kühlen Kopf. Im Angesicht der Rotte, die soeben die Stiege hinaufpolterte, würde ihm dies gewiss nicht leichtfallen. Das Waffengeklirr, Schnauben und unterdrückte Fluchen verhieß nichts Gutes.
Es waren ihrer vier. Drei Kriegsknechte, allesamt in kurmainzischem Sold. Und ein Schreiber, vermutlich aus der Kanzlei droben auf der Burg. Letzterer hatte es nicht einmal für nötig gehalten, an die Tür zu klopfen. Wozu auch, wo es doch nur um einen hergelaufenen jüdischen Wucherer und Weiberschänder ging. »Isaak Rubinstein, wenn ich nicht irre?«, feixte der Schreiber, dessen robuster Körperbau in auffälligem Gegensatz zu seiner Fistelstimme stand. Dann stieß er die Tür auf und schob ihn kurzerhand beiseite.
»Der bin ich!«, antwortete Isaak und streifte den Kanzlisten mit seinem Blick. Der wiederum tat so, als sei er Luft für ihn, und sah sich in der etwa acht auf sechs Schritt großen Kammer ungeniert um. »Darf man fragen, was Euch zu mir führt?«
»Typisch Jude. Frech, faul und überheblich!«, blaffte der Schreiber, während er das Schlafgemach auf den Kopf stellte. Zuerst kam die Bettstatt an die Reihe. Kopfkissen, Decke, das Polster aus Strohsäcken – in die Ecke damit. Dann die Hirschledertasche, die er einfach umstülpte. Zu guter Letzt die Truhe, in der sich außer ein paar Kleidungsstücken offenbar nichts Verdächtiges befand.
Trotz des Durcheinanders, das binnen Kurzem in der Kammer herrschte, verzog Isaak keine Miene. Und vielleicht war es genau das, was den Schreiber in Rage versetzte. Diese stoische Gelassenheit, mit der sich der Bankier bückte, um seine Habseligkeiten wieder einzusammeln. »Kommst dir wohl reichlich schlau vor, Giftmischer!«, geiferte der Schreiber und schlug ihm sein Gebetbuch aus der Hand. »Eins kann ich dir jetzt schon sagen: Droben auf der Burg werden sie dir die Flausen schon austreiben!«
Nach außen hin völlig ruhig, beugte Isaak das Knie, hob das in Schweinsleder gefasste Gebetbuch wieder auf und wischte es mit dem Handrücken ab. »Und was, wenn die Frage gestattet ist, wirft man mir vor?«
»Giftmischerei, Unzucht, Wucher und widerrechtlicher Aufenthalt in der Stadt!«, trumpfte der Schreiber auf.
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