Pilger des Zorns
war es bitterkalt, der Schnee fast zehn Zoll tief und die Domstraße, in der sie lebte, menschenleer. Der Winter, grimmiger als je zuvor, hatte die Stadt fest im Griff, und mancherorts wurde bereits das Brennholz knapp. Kein Wunder, dass sie die Mutter anbettelte, daheimbleiben zu dürfen. Doch die, resolut wie immer, schenkte ihren Bitten kein Gehör. Was sein musste, musste nun einmal sein. Vor allem, wenn es um die Beichte ging. Da halfen kein Betteln und auch kein Flehen. Finis misericordiae! [17] Und keine Widerrede.
Kaum war sie um die Ecke gebogen, um die Schustergasse in Richtung Oberer Markt zu durchqueren, war sie steif vor Kälte. Der Umhang mit dem Hermelinkragen war viel zu dünn, ihre Schuhe völlig durchweicht. Selbst ihr Lieblingsspiel, welches darin bestand, in die Fußstapfen anderer zu treten, hatte sie bereits nach kurzer Zeit aufgegeben. Vor allem, weil sie keine Lust dazu hatte.
Aber auch deshalb, weil es sie nicht gab.
Die Straßen waren wie leer gefegt, der Obere Markt, über den ein eisiger Wind tobte, öde und verlassen. Aus dem Chor der Marienkapelle klang das Tedeum zu ihr herüber, das einzige Lebenszeichen weit und breit. Ansonsten blieb es ruhig und still, fast wie in einem Traum. Fröstelnd vor Kälte, schlug sie den Kragen ihres Umhangs hoch, und die Ahnung, dass ihr dieser Tag noch lange im Gedächtnis bleiben würde, ergriff allmählich Besitz von ihr.
Einen Steinwurf vom Dominikanerkloster entfernt blieb sie schließlich stehen. Kein Bettler, keine Kirchgänger – nichts. Nur ein Schwarm Raben, die einen Mäusekadaver in Stücke hackten. Das Gefühl, Teil eines Traumes zu sein, verstärkte sich. Bis hin zu dem Punkt, an dem sie glaubte, dass dies in Wahrheit ein Albtraum war.
Ein Eindruck, der sich nicht bestätigen würde. Sollte doch das, was ihr binnen einer Viertelstunde widerfahren würde, schlimmer als jeder Albtraum sein.
Doch das wusste sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Am Ende fasste sie sich ein Herz, überquerte den Platz vor der Kirche und stieg die vereisten Stufen hinauf. Die Hand auf der Klinke, hielt sie inne und sah sich um. Bis auf die Raben, einen herumstreunenden Hund und eine Ratte, die in einem Abfallhaufen herumwühlte, war der Kirchplatz jedoch leer. Ihrer inneren Unruhe zum Trotz drückte sie schließlich die Klinke herunter und trat ein.
Auch hier das gleiche Bild: Die Klosterkirche der Dominikaner war leer. Von ihrem Beichtvater, den sie hier anzutreffen hoffte, keine Spur. Durch die Bogenfenster im Seitenschiff sickerte das Tageslicht herein, jedoch so spärlich, dass der Flügelaltar im Chor kaum zu erkennen war. Wohin ihr Blick auch fiel: Schatten, Leere – und allgegenwärtige Finsternis. Und über allem der Geruch von Weihrauch und erkaltetem Wachs. Eine Mixtur wie geschaffen, um die Ausdünstungen der Gestalt, die sich ihr auf die Fersen geheftet hatte, zu überdecken.
Doch alles Zögern half nicht. Der Wille ihrer Mutter war Gesetz. Sämtlichen Vorahnungen, derentwegen sie am liebsten umgekehrt wäre, zum Trotz.
Und so, nicht ahnend, dass ihr Schicksal besiegelt war, schlug sie den Weg zum Beichtwinkel ein. Dort angekommen, wandte sie sich der Muttergottes zu, kniete nieder und sprach ein Gebet. Und dann geschah es. Kaum wieder auf den Beinen, spürte sie, wie ihr jemand die Hände auf die Schultern legte. Kreidebleich vor Schreck, blieb sie wie angewurzelt stehen. Der Schreck saß so tief, dass sie, die sie sonst so couragiert war, sich nicht einmal umzudrehen wagte. Mit dem Ergebnis, dass sie einfach nur dastand, auf alles Mögliche gefasst.
Nur nicht auf das, was ihr hier, im Angesicht der Muttergottes, widerfahren würde. Dazu reichte weder ihre Fantasie noch das schwärzeste Albtraumgebilde aus.
»Du kommst spät, meine Tochter«, raunte ihr eine Stimme ins Ohr, während sich der Griff um ihre Schultern verstärkte. Es war die Stimme ihres Beichtvaters, und wären da nicht diese Hände gewesen, hätte sie fürs Erste aufatmen können. Diese Hände, die sich wie die Krallen eines Habichts in ihre Schultern bohrten.
»Verzeihung, Oheim!«, flüsterte sie und rührte sich nicht vom Fleck. Allein schon aus Angst vor der Mutter, die einen Heidenrespekt vor ihrem Bruder hatte. Schließlich hatte er es bis zum Sakristan des Dominikanerklosters gebracht. Und das wollte für den Sohn eines Gerbers etwas heißen.
»Besser spät als nie«, flüsterte die Stimme, die sich so anhörte, als ob ihr Besitzer außer Atem sei. »Ich dachte
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