Pilger des Zorns
schon, du kommst nicht mehr.«
Caelina hörte nur mit einem Ohr hin. Der Griff des Oheims tat weh, und als sie es nicht mehr aushielt, riss sie sich los. Doch so leicht, wie sie sich das gedacht hatte, würde sich der Bruder ihrer Mutter nicht abschütteln lassen.
»Warum so spröde?«, ließ der Mann, vor dem sie sich zeitlebens gefürchtet hatte, nicht locker. Seine Stimme hatte ihren einschmeichelnden Klang verloren, und bevor Caelina seine Absichten durchschaut hatte, hatte der Oheim sie gepackt, ihr den Umhang vom Leib gerissen und im hohen Bogen in die Ecke geschleudert.
Caelinas Herz klopfte wie wild, heftiger als je zuvor. Dennoch rührte sie sich nicht vom Fleck. Der Kälte zum Trotz, die wie tausend Nadeln durch ihr Leinenkleid drang, harrte sie weiter im Halbdunkel aus. Doch da waren plötzlich wieder diese Hände, der heiße Atem in ihrem Nacken, die schweißdurchtränkte Luft. Und da war dieses Keuchen, welches sich mit jedem Moment, in dem sie auf der Stelle verharrte, weiter steigerte. Und da war dieses Etwas, das ihre entblößte Schulter berührte. Feucht, ekelerregend und schal. Ein Paar Lippen, die ihre Haut mit Küssen bedeckten.
Nie zuvor hatte Caelina etwas Abstoßenderes erlebt. Ihr Körper verkrampfte sich, und es überlief sie eiskalt. Stocksteif vor Angst, richtete sie ihren Blick zum Altar, und sei es nur, um sich abzulenken.
Eine Galgenfrist.
Was dann geschah, ereignete sich so schnell, dass sie nicht einmal Zeit gehabt hatte, sich zu schämen. Der Griff des Oheims verstärkte sich, und die Hilfe, um die sie die Gottesmutter angefleht hatte, blieb aus. Caelina war allein, dem Monstrum, dessen Hände ihre Schultern, Brüste und Scham betasteten, hilflos ausgeliefert. Alles Betteln half nicht, schien es doch den Oheim, der sie zu Boden schleuderte, ihr Kleid hochschob und seinen Mund auf ihre Lippen presste, umso mehr in Rage zu versetzen. Das Letzte, woran sich Caelina erinnerte, waren die Froschaugen, welche auf ihrem halb nackten Körper ruhten. Dann entblößte das Monstrum, das sich Oheim schimpfte, in aller Seelenruhe seinen Schaft, lächelte und drang keuchend in sie ein.
Von da an spürte sie nichts mehr: weder Hilflosigkeit noch Wut noch Scham. Und selbst wenn, hätte sie ihren Gefühlen nicht Ausdruck verleihen können.
Caelina hatte die Sprache verloren.
Die Sprache, aber nicht ihren Durst nach Rache. Malachias, Sakristan des Dominikanerordens, würde bezahlen. Für alles, was er ihr angetan hatte. Durch ein Strafgericht, wogegen das Fegefeuer eine unbedeutende Kleinigkeit war. Selbst auf die Gefahr hin, dass sie zur Mörderin werden würde.
So wahr ihr Name Caelina war.
H
»Was sitzt du hier rum und hältst Maulaffen feil?«, riss sie der barsche Befehlston der Matrone aus den Gedanken. »Habe ich dir nicht verboten, an Deck zu gehen?«
Caelina legte die Hände auf die Reling, ließ sich vom Fahrtwind umschmeicheln und tat so, als habe sie nichts gehört. Sie trug ihre Haare nicht offen, sondern hatte sie mit einer Haarnadel zusammengesteckt. Diese Haarnadel war aus Gold, ein Geschenk ihres verstorbenen Vaters. Und somit das sicherste Mittel, um ihre Mutter, gegen deren Jähzorn kein Kraut gewachsen war, in Rage zu versetzen.
»Was bildest du dir eigentlich …«, begann Liutgard, auf dem besten Weg, die Mutmaßung ihrer Tochter Wirklichkeit werden zu lassen. Kurz davor, ihrer Wut freien Lauf zu lassen, hob sie die rechte Hand. Aus der Lektion, die sie Caelina erteilen wollte, sollte jedoch nichts werden.
»Warum so ungestüm, Frau Liutgard?«, platzte Bruder Hilpert in die familiäre Auseinandersetzung hinein. »Oder habt Ihr vergessen, was Eure Nichte durchgemacht hat?«
Die Finte, so plump sie auch war, verfehlte ihre Wirkung nicht. Liutgard senkte ihre Pranke, ließ einen Schwall Atemluft entweichen und machte ein grimmiges Gesicht. Trotz der Galle, die in immer kürzeren Abständen in ihr hochzukochen pflegte, hatte sie Bruder Hilperts Frage aufhorchen lassen. Der Grund, weshalb sie sich unauffällig umsah, näher an ihn heranrückte und ihrer Stimme einen drohenden Unterton verlieh. »Bei allem schuldigen Respekt, Bruder –«, grollte sie, »woher wollt Ihr eigentlich wissen, was meine Nichte durchgemacht hat? Oder könnt Ihr etwa hellsehen?«
»Das nun nicht gerade!«, entgegnete Bruder Hilpert, dessen vor aufgesetzter Naivität nur so strotzendes Lächeln die Matrone zum Glück nicht durchschaute. »Wiewohl mir das Verhalten Eurer Nichte
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