Pilger des Zorns
reichlich Anlass zur Sorge gibt. Was die Vermutung nahelegt, ihr müsse etwas widerfahren sein, das dieses Verhalten – wie drücke ich mich jetzt bloß aus? – ja, genau! Was die Vermutung, man habe ihr Gewalt angetan, nachgerade unausweichlich macht.«
Liutgard kniff die Augen zusammen, spielte mit Daumen und Zeigefinger an ihrer Warze herum und warf Bruder Hilpert einen wahren Reptilienblick zu. »Gewalt?«, fragte sie barsch. »Was heißt hier ›Gewalt‹?«
Wohl wissend, wie dünn das Eis war, auf dem er sich bewegte, gab Bruder Hilpert scheinbar klein bei. »Sollte ich den Anschein erweckt haben, Behauptungen aufzustellen, die nicht der Wahrheit entsprechen, möchte ich mich hiermit bei Euch entschuldigen«, gab er salbungsvoll kund und hasste sich insgeheim dafür. »Ihr habt recht: Eure und die Angelegenheiten Eurer Tochter …«
»Tochter?«
Bruder Hilpert machte eine entschuldigende Geste und spielte den Verlegenen. »Welch ein Lapsus – verzeiht«, entgegnete er geziert, verblüfft über die Wirkung, die er mit dieser neuerlichen Finte erzielt hatte. »Ich meinte natürlich ›Nichte‹!«
Die Matrone riss den Mund auf, konnte sich jedoch gerade noch beherrschen. »Wenn Ihr mich auf den Arm nehmen wollt, seid Ihr an die Falsche geraten, Bruder!«, zischte sie, während ihr Rumpf vor Erregung bebte.
»Keineswegs!«, gab Bruder Hilpert postwendend zurück, schlug sein Brevier auf und blätterte darin herum. »Ich mache mir nur Sorgen – weiter nichts.«
»Überflüssigerweise.«
»Wenn Ihr meint«, erwiderte Bruder Hilpert mit einem Achselzucken, entnahm dem Brevier ein Bild, auf dem die Muttergottes zu sehen war, und drückte es dem Mädchen in die Hand. »Hier, nimm, mein Kind«, sprach er es mit freundlicher Stimme an. »Auf dass dir dies Bildnis Glück bringen möge. Zumal wir heute ihren Ehrentag begehen. Den der Muttergottes, meine ich.«
Bruder Hilpert hatte aus purer Gefälligkeit gehandelt und dem unerquicklichen Gespräch eine Wendung geben wollen. So weit, so gut. Was er erreicht hatte, war allerdings das genaue Gegenteil.
Als hielte es einen Skorpion in ihrer Hand, wurde das Gesicht des Mädchens, das ihm unter dem Namen Rosalinde bekannt war, plötzlich aschfahl. Ihr Atem ging rascher, der Herzschlag ebenso. Gerade eben noch die Sanftmut in Person, begann sich Liutgards angebliche Nichte in eine Furie zu verwandeln. Ein Dämon, der vor nichts haltzumachen schien. Auch nicht vor dem, womit Bruder Hilpert nie im Leben gerechnet hätte.
Mit einem Gesicht, das einer Rachegöttin zur Ehre gereicht hätte, riss ihm das Mädchen das Bild aus der Hand und zerfetzte es. Fast gleichzeitig frischte der Wind auf und fuhr durch sein schulterlanges, pechschwarzes Haar. Wie vor den Kopf gestoßen, rang Bruder Hilpert nach Luft. Obwohl sein Schreck tief saß, konnte er den Blick dennoch nicht abwenden. Das Mädchen zog ihn vollkommen in seinen Bann.
Oder vielmehr das, was von ihm übrig geblieben war.
H
Geraume Zeit später, als der Wind die Fetzen des Bildnisses längst davongeweht hatte, kam Bruder Hilpert wieder zur Besinnung. So auch das Mädchen, das sich offenbar an nichts erinnern konnte. Der böse Geist, der von ihm Besitz ergriffen zu haben schien, war gewichen, und das Mädchen sackte buchstäblich in sich zusammen. Keine Macht der Welt, so schien es, hätte es aus seiner Apathie herausreißen können. Am allerwenigsten die Matrone, deren Versuche, ihre vermeintliche Nichte wachzurütteln, zum Scheitern verurteilt waren.
Zu Bruder Hilperts Erleichterung war Hilfe jedoch nicht mehr fern. Sie kam in Gestalt des Schiffsjungen. Auf eine Weise, mit der er nicht gerechnet hatte. Sogar Liutgard blieb die Luft weg, und das wollte bekanntlich etwas heißen.
Ohne Bruder Hilpert, der ihm gespannt zusah, überhaupt zu registrieren, verließ der Schiffsjunge das Achterdeck, ließ die Matrone links liegen und ging vor Caelina in die Knie. Dann ergriff er ihre Hände und redete beruhigend auf sie ein. Trotz aller Bemühungen rührte sich das Mädchen jedoch nicht vom Fleck, blickte stur geradeaus. Bruder Hilpert sah es mit Sorge, so unbegründet diese auch war. »Ich bin ’ s, Rosalinde – der Jobst!«, flüsterte der Schiffsjunge, ein warmherziges Lächeln im Gesicht. »Hab keine Angst. Ich pass auf dich auf.«
Im Begriff, aufzubegehren, holte Liutgard tief Luft. »Was fällt dir eigentlich …«, setzte sie zu einer ihrer üblichen Attacken an. Ein Blick von Bruder Hilpert,
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