Pilger des Zorns
Emicho schachmatt zu setzen. Und das im Handumdrehen. Dass er es nicht tat, grenzte unter den gegebenen Umständen an ein Wunder.
Ein Wunder, so Bruder Hilperts Intuition, für das es einen Grund geben musste.
»Eine Menge«, erwiderte der Sackpfeifer, als er sich wieder gefangen hatte, und schaute den Badstuber durchdringend an. Bruder Hilpert sah und hörte es mit Verwunderung, hielt sich jedoch heraus. »Jedenfalls mehr, als Ihr Euch vorstellen könnt. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Alles, was Ihr tun müsst, ist, ein wenig Euren Kopf anzustrengen. Ein Minimum an Hirnschmalz – und die Antwort auf Eure Frage ergibt sich wie von selbst.«
»Dummes Geschwätz.«
»Findest du?«
Puterrot vor Zorn war Emicho kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Der Miene nach zu urteilen, mit welcher der Sackpfeifer ihn musterte, hätte Richwyn dies durchaus in den Kram gepasst. Zu seinem Bedauern, das sich in einem geringschätzigen Grinsen äußerte, wurde jedoch nichts daraus.
»Mich zu duzen – eine Frechheit!«, schäumte der Badstuber, wobei er Richwyns Blick jedoch mied. »Eine Schande, was man sich heutzutage alles bieten lassen muss.«
»Wenn hier jemand eine Schande ist, dann du!«, erwiderte der Sackpfeifer prompt.
»Was hast du da eben gesagt?« Auf so eine Antwort, noch dazu von einem Sackpfeifer, war Emicho nicht gefasst, und er starrte seinen Kontrahenten ungläubig an. Dann setzte er zu einer Erwiderung an. Außer einem Krächzen, reichlich Speichel und einem Paar Froschaugen, die vor Erregung fast aus den Höhlen sprangen, kam jedoch nichts dabei heraus.
Doch Richwyn kannte keine Gnade. »Nichts anderes als das, was fast alle hier Anwesenden über dich denken. Dass du eine, wenn nicht sogar die widerwärtigste Kreatur bist, die mir jemals über den Weg gelaufen ist. Nicht wert, auf Gottes Erdboden zu wandeln. Sondern dort, wo dir die gerechte Strafe für deine Missetaten zuteilwerden wird. Dort, wo all diejenigen weilen, die es nicht wert sind, als Menschen zu gelten. Deren Leben verwirkt ist. Von nun an bis in Ewigkeit.«
›Amen!‹, schoss es Bruder Hilpert durch den Kopf, und während sich Emicho an Richwyn vorbeizwängte, der Koloss sich seiner Arbeit zuwandte und der Kapitän wieder das Steuer übernahm, kam die Erleuchtung über ihn.
Endlich.
Sie kam so schnell, so blitzartig, dass ihm schwindlig wurde. Und mit einer Präzision, die ihn in Erstaunen versetzte. Einen Moment wie betäubt, taumelte Bruder Hilpert zurück, und wäre die Reling nicht gewesen, an der er Halt fand, wäre die Erleuchtung eine überaus schmerzhafte gewesen.
So aber kam ihm die Bank an der Backbordseite der ›Charon‹ gerade recht. Und der Wind, der ihm die Stirn kühlte. Der regelmäßige Wellengang, das satte Grün und die allmählich nachlassende Hitze erledigten den Rest. Keine Viertelstunde verging, und Bruder Hilpert war wieder der Alte.
Jedenfalls fast.
Zeit für ein Dankgebet, durchfuhr es ihn, und so faltete er die Hände und tat, wonach ihm war. Wieder einmal war es sein Schöpfer, der ihn, sein Tun und all seine Gedanken lenkte. Wem, wenn nicht ihm, hatte er es zu verdanken gehabt, dass ihn die Erinnerung am Ende doch nicht im Stich gelassen hatte?
Während er so dasaß, immer noch ein wenig perplex, weshalb ihm die rettende Idee nicht schon früher gekommen war, setzte sich Richwyn neben ihn, klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und sagte: »Warum so nachdenklich, Bruder? Langsam glaube ich, Ihr seht Gespenster.«
Bruder Hilperts Antwort kam nicht sofort, er ließ sich Zeit damit, starrte nachdenklich ins Leere. Dann stützte er die Handflächen auf die Knie, holte tief Luft und wandte sich dem Sackpfeifer zu. »Gespenster, meint Ihr?«, fragte er und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Jetzt nicht mehr, mein lieber Richwyn, jetzt nicht mehr. Die Zeit, während der ich einem Phantom nachgejagt bin, ist zu Ende gegangen.«
Dann erhob er sich, durchbohrte Richwyn mit seinem Blick und ergänzte barsch: »Unwiderruflich, Bruder.«
ZWISCHEN NONA UND VESPER
Worin in FREUDENBERG am Main ein weiterer Passagier an Bord der ›CHARON‹ geht und Bruder Hilpert aus der Bredouille hilft.
Auf einmal war alles wieder so wie früher. Ohne dass sie sich dagegen zur Wehr setzen konnte. Wie an jenem Tag, dem zweiten nach Epiphanias, an dem alles begann. Ein Tag, der sich ihr auf unauslöschliche Weise einprägen sollte.
Sie war auf dem Weg zur Beichte, wie an jedem Mittwoch. Draußen
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